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"Auf Tinder tummeln sich bald nur noch Verzweifelte"

Von wegen Ekstase und wilde Party: Nach der Pandemie folgt ein Zeitalter der Moralität, prognostiziert der renommierte Zukunftsforscher Matthias Horx.

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Hat Tinder ausgedient?
Hat Tinder ausgedient?
imago images/ZUMA Wire

Sie sagen, die Welt wird nie mehr zur alten Normalität zurückkehren. Wie meinen Sie das?

So eine Pandemie verändert die Welt nachhaltig, das zeigt die Geschichte, die Erfahrungen mit Pest und Cholera etwa. Je einschneidender eine Erfahrung war, umso intensiver die Veränderung. Und die Corona-Pandemie ist für uns als Gesellschaft schon eine sehr prägende Veränderung.

Eineinhalb Jahre haben wir uns im Verzicht geübt: Keine Party, kein wildes Daten, Fernstudium statt Hörsaal und Homeoffice statt Kaffeemaschinengespräche. Nun kommt die große Ekstase, oder?

Im Einzelnen wird das geschehen, das denke ich auch. Menschen werden sich die Birne umso mehr zudröhnen, werden wild, unkontrolliert Party machen. Aber "the big shift" sehe ich in einer Gegenbewegung, einer neuen Ernsthaftigkeit. Kennen Sie diese abgewrackten Stars, die den Ausstieg verpasst haben und in fortgeschrittenem Alter immer noch durch die Nachmittags-Talkshows tingeln? Es ist ja auch überdeutlich geworden, wie uns die Feier- und Exzesskultur ganz schön kaputt machen können.

Es folgt also das kollektive, große Erwachen?

Ja. Kopflos Party zu machen, hat doch eigentlich was Fades, besonders nach Superspreader-Events wie in Ischgl. Haben Sie mit diesen Bildern im Hinterkopf noch Lust auf Ballermann? Ich sehe ein Zeitalter der Moralität auf uns zukommen, wobei ich das nicht frömmlerisch verstanden haben will. Aber die Aufmerksamkeiten verschieben sich: Die Lustorientierung, das schnelle Befriedigen von (Konsum-)Bedürfnissen werden nicht mehr so im Zentrum stehen. Denn die Pandemie hat gezeigt, was wirklich wichtig ist: das Soziale, die Natur.

Die Natur?

Ja, die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie sehr wir von der Natur abhängen, wie verletzlich wir sind, wenn sich die Natur aufbäumt. Zum Beispiel in Form eines Virus. Oder in Form von Dürren und Überschwemmungen in Folge der Erderwärmung.

Werden wir uns der Klimaerwärmung zukünftig entschlossener entgegenstellen können?

Ja, ich glaub, die Klima-Anliegen bekommen durch die Pandemie erst recht Schub. Wir erleben bereits, wie grüne Positionen in der Politik immer mehr Unterstützung erhalten und wie immer mehr Wirtschaftsbosse sich nun auf echte Maßnahmen gegen CO2 festlegen. Im Vergleich zum Kampf gegen die Klimaerwärmung war Corona bloß ein Probelauf. Doch Krise bedeutet auch Chance. Wenn wir Corona «schaffen» können, dann können wir auch das Klima in den Griff kriegen. Ich beispielsweise fahre schon lange nur noch mit einem Elektroauto und habe jetzt auch mein Haus CO2-neutral umgebaut. Die Welt wird nicht untergehen.

Die Krise verändert auch das Soziale, haben Sie gesagt.

Allerdings. Corona und die Lockdowns haben uns gezwungen, unsere Beziehungen zu prüfen, zu überdenken, wem wir wirklich eng verbunden sind. Familie, enge Freundinnen und Freunde. Wir haben gemerkt, wie wichtig diese Beziehungen für uns sind – und wie schrecklich sich Einsamkeit anfühlt. Aus diesen Erfahrungen werden wir lernen. Verbindliche Beziehungen nehmen an Bedeutung zu.

Gilt das auch für Paarbeziehungen?

Auf jeden Fall. Auch wenn mit dem Wunsch nach mehr Verbindlichkeit nicht auch automatisch eine höhere Beziehungsfähigkeit gegeben ist.

Auf uns kommen also mehr Hochzeiten, mehr monogame Beziehungen, mehr Kinder zu?

Das unverbindliche Daten, der Konsum oberflächlicher Beziehungen und die rastlose Suche nach Mr. und Mrs. Right sind zumindest ziemlich fad geworden. Tinder ist vielleicht nicht mehr das richtige Medium, wenn man wirklich nach Verbindung und Beziehung sucht. Dating-Apps haben irgendwann vielleicht nur noch die echt Verzweifelten als Kundinnen und Kunden und werden auf die veränderten Bedürfnisse reagieren müssen. Unsicher bin ich, ob die Zahl an Eheschließungen steigt. Für eine verbindliche Beziehung braucht es keinen Trauschein. Dass sich die Geburtenziffer infolge der Pandemie nachhaltig erhöht, glaube ich nicht. Aus der Geschichte wissen wir, dass während der Krise die Anzahl der Geburten zurückgeht, danach tritt häufig ein Nachholeffekt ein. Langfristig wird sich die Kinderzahl aber wieder auf Vorkrisenniveau einpendeln beziehungsweise die langjährige Entwicklung fortgesetzt werden. Und die zeigt ja nach unten.

Skizzieren Sie, was das alles für Generation Z bedeutet.

Die heutigen jungen Erwachsenen haben mitten in ihrem Heranwachsen eine Krise erleben müssen. Die Krise war nicht abstrakt, sondern saß quasi mit ihnen am Küchentisch. Wir alle haben durch Corona erfahren, was wirklich zählt im Leben. Entwicklungen, die diese Generation schon vorher geprägt haben, haben an Schärfe zugelegt. Der Wille, sich zu engagieren etwa, ist gestiegen. Ich denke an die Klimabewegung oder die Black-lives-Matter-Demos. Gleichzeitig wächst die Kritik an maßlosem Konsum und einer Fixierung auf finanziellen Erfolg. Ein Leben lang am selben Arbeitsort? Sicher nicht! Viel verdienen und sich halb tot arbeiten, damit man einen Porsche fahren kann? Nein, danke. Wichtiger sind Selbstverwirklichung und soziales Denken. Deshalb werden junge Menschen sich vermehrt für soziale und künstlerische Berufe entscheiden.

Zum Schluss: Wir nähern uns dem Ende der Pandemie, die Maßnahmen werden gelockert. Was ist mit dem Handshake? Werden wir je wieder Hände schütteln, Herr Horx?

Das ist eine berechtigte Frage. Wir haben uns das Händeschütteln nun mehr als eineinhalb Jahre lang abgewöhnt, das setzt sich schon fest. Gleichzeitig ist es eine alte, archaische Begrüßungsform mit hoher Symbolik, man denke etwa an die präsidialen Handshakes bei Gipfeltreffen. Ich glaube nicht, dass das Händeschütteln ganz verschwinden wird, sondern dass es gemeinsam mit anderen Begrüßungsformen wie dem Ellbogengruß oder der angedeuteten Verbeugung bestehen bleibt. Gerade in großen Gruppen ist das ohnehin hygienischer.