Ukraine
15 Monate in Russen-Gefangenschaft – so schlimm war es
15 Monate war er in russischer Kriegsgefangenschaft, nun ist Ivan frei. Er spricht über Überlebensstrategien, Schutzengel und sein Heimatland Ukraine.
Ivan (34) lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in der Millionenstadt Dnipro in der zentralöstlichen Ukraine. Er dient in der 25. Luftlandebrigade (25th Airborne Brigade). "Ich kämpfte im Rahmen der Mobilisierung 2014 für ein Jahr in Donezk gegen die russischen Aggressoren. Letztes Jahr meldete ich mich freiwillig zurück." Vor dem Krieg arbeitete er bei der staatlichen Eisenbahn in der Reparatur.
Gefangen genommen wurde der 34-Jährige am 1. April 2022 in der Region Isjum, nachdem er sich dort zwei Wochen lang in einem leeren Haus versteckt hatte. Die "Heute"-Partnerplattform "20 Minuten" hat mit ihm gesprochen.
"Sie hatten fast so große Angst wie ich"
"Die Russen fanden mich während einer Durchsuchung", erinnert er sich. "Es war eigentlich lustig, denn die Soldaten hatten fast so große Angst wie ich – weil ich quasi mitten unter ihnen gehaust hatte." Diesen Juli wurde Ivan nach 15 Monaten Gefangenschaft in Sumy, nahe der russisch-ukrainischen Grenze ausgetauscht: "45 Ukrainer – Soldaten, Zivilisten und zwei Kinder unter zehn Jahren – gegen 45 russische Soldaten."
Das Gefühl von Freiheit ängstige ihn auch nach gut acht Wochen noch, sagt er. Am Anfang habe er sich sogar gefürchtet, das Haus zu verlassen und mit Menschen zu sprechen. "Psychisch geht es mir mittlerweile gut", sagt Ivan. Die Gegenwart seiner Frau und Kinder sei heilsam. "Doch körperlich bin ich noch angeschlagen".
In der russischen Strafkolonie "Donskoye"
Er sei in der Gefangenschaft häufig geschlagen worden, vor allem am Anfang. "Wir Soldaten wurden stärker geschlagen als die ukrainischen und russischen Zivilisten. Einige waren halbtot. Medizinisch versorgt wurde niemand." Ivan ist 1,72 Meter groß und wiegt normalerweise 68 Kilo. Nach den 15 Monaten Gefangenschaft waren es noch 49 Kilo. "Andere verloren viel mehr Gewicht", sagt er. Ivan saß im Straflager "Donskoye" in der russischen Stadt Tula, knapp 200 Kilometer südlich von Moskau.
Ivan spricht von Überlebensstrategien, die ihm durch diese Zeit halfen. So wisse man am Anfang der Gefangenschaft nicht, wie man sich verhalten solle. "Umso wichtiger ist es zu beobachten und zu lernen, wie man Kriegsgefangener ist, ohne ständig geschlagen zu werden." Außerdem kommen die Kollektivstrafen dazu: Wenn sich ein Einzelner falsch benommen habe, seien im Trakt alle Männer verprügelt worden. "Man wird deswegen sehr achtsam, so Ivan.
"Diese Verbindung war so kostbar, so tröstend"
In der Gefangenschaft galt sein erster Gedanke Gott, dem Bettmachen und dem Tagesablauf, der möglichst ohne Schläge vor sich gehen sollte. "Es half mir, an Gott zu denken und zu glauben, dass es Schutzengel gibt, die mir beistehen", sagt Ivan. "Ich träumte jede Nacht von meinem Haus und meiner Familie. Diese Verbindung war so kostbar, so tröstend."
Jetzt will der 34-Jährige schnell zu seiner Einheit zurückkehren – ein Wunsch, der ihn selbst überrascht. "In der Gefangenschaft hatte ich mir geschworen: Wenn du hier rauskommst, war's das. Ich habe zwei Kinder und will sie aufwachsen sehen. Aber jetzt sehe ich es wieder anders. Der Krieg ist ja noch da. Ich habe weiter eine Verpflichtung meiner Einheit gegenüber, meinem Vaterland gegenüber."
Verbitterung wegen der verlorenen und qualvollen Zeit verspürt er keine. "Es war ein Test, und ich habe eine neue Chance erhalten. Ich bin jetzt anders, ein anderer Mensch. Ich trinke und rauche nicht mehr. Aber bitte: Keine solchen Tests mehr!"
"Die Ukraine ist sicher kein perfektes Land"
Auf die Frage, ob die Ukraine die besetzten Gebiete dem Frieden zuliebe an Russland abtreten solle, überlegt Ivan lange. "Wenn es den Krieg beenden würde, wäre es eine Überlegung wert", sagt er dann. Nur glaube er nicht daran: "Wenn wir auf Teile unseres Landes verzichten, sendet das ein falsches Signal an Moskau aus."
Die Ukraine sei "sicher kein perfektes Land", fügt der 34-Jährige an. "Es ist nicht so einfach, frei und unabhängig zu sein." Länger schweigt er wieder, bevor er ausführt: "Frei zu sein heißt Verantwortung übernehmen, Rechenschaft ablegen, die Korruption bekämpfen. Dorthin müssen und wollen wir – und weg von der Kontrolle Russlands."