Was Roswitha N. (49) nach eigenen Angaben seit ihrer Jugend durchmachen musste, ist nur schwer zu ertragen: "Ich war das jüngste von sieben Kindern, meine Mutter war Alleinerzieherin. Wir haben damals in einer Wohnung in Floridsdorf gelebt", erinnert sich die 49-Jährige im Gespräch mit "Heute".
Als Roswitha N. 16 Jahre alt war, brach ihre Welt zusammen: "Drei Monate vor ihrer Pensionierung erlitt meine Mutter einen Lungeninfarkt – sie starb direkt vor meinen Augen. Weil ihre Leiche erst am nächsten Tag geholt wurde, musste ich allein mit meiner verstorbenen Mutter in der Wohnung übernachten – das war schrecklich für mich", erzählt die Wienerin.
Danach folgte der nächste Schicksalsschlag: "Eine meiner Schwestern, zu der ich ein sehr enges Verhältnis hatte, erkrankte schwer. Um sie pflegen zu können, habe ich die Schule geschmissen. Ich habe mich bis zu ihrem Tod um sie gekümmert. Auch sie ist vor meinen Augen gestorben", berichtet Roswitha N.
Halt gab ihr nur noch ihr damals sechsjähriger Neffe, der Sohn ihrer verstorbenen Schwester: "In Absprache mit dem Jugendamt habe ich mich um ihn gekümmert. Ich habe sogar den Hauptschul-Abschluss nachgeholt. Aber irgendwann ging es nicht mehr. Es war zu viel, ich hab' nicht mehr können", meint die 49-Jährige.
„Ich lag im Netzbett und konnte mich nicht rühren. Ich habe geglaubt, dass ich dort sterben werde“Roswitha N.über ihren Aufenthalt in der Psychiatrie
Im Jahr 1991 – mit damals 16 Jahren – landete sie demnach zum ersten Mal in der Erwachsenenpsychiatrie: "Ich weiß noch genau, ich war auf der Donauinsel unterwegs. Dann stand ich auf der Brücke und wollte springen. Die Polizei wurde gerufen, ich bin weggerannt, aber sie haben mich erwischt. Dann bin ich für eine Nacht auf die Baumgartner Höhe (heute: Klinik Penzing, Anm.) gekommen", erklärt Roswitha N.
Danach folgten nach Angaben der 49-Jährigen immer wieder Einweisungen: "Ich wurde fixiert, weil ich selbstgefährdend war. Ich lag im Netzbett und konnte mich nicht rühren, das Zimmer wurde zugesperrt, die Notfallglocke weggenommen – ich nenne das Isolationshaft. Ich habe geglaubt, dass ich meine Familie nie wieder sehe und dort sterben werde."
Den endgültigen Zusammenbruch hatte Roswitha N. dann mit 22 Jahren: "Als ich 18 war, habe ich eine Beziehung begonnen. Mit 22 Jahren bin ich dann schwanger geworden. Doch mein Freund erklärte mir, dass er verheiratet ist und schon ein Kind habe, das zweite unterwegs sei. Das hat bei mir eine akute Psychose ausgelöst. Ich habe mein Baby verloren und weiß bis heute nicht wie genau."
Die Wienerin wurde daraufhin jahrelang in verschiedensten psychiatrischen Abteilungen und Pflegeheimen, etwa in der Steiermark und im Burgenland, untergebracht. Während ihrer Zeit in der Psychiatrie erlebte Roswitha N. nach eigenen Angaben (sexuelle) Übergriffe von Personal und Patienten: "Ein Pfleger hat mich sexuell missbraucht. Ein anderes Mal hat mich eine Patientin, als ich fixiert war, ausgegriffen – ich war vollkommen wehrlos. Ich habe aber auch Missbrauch bei anderen Patienten gesehen."
„Ich wollte mehrmals aus der Psychiatrie flüchten. Dabei habe ich mir die linke Ferse zertrümmert und das Knie verletzt“Roswitha N.über ihre Fluchtversuche aus der Psychiatrie
Erst 2019 kehrte Roswitha N. nach Wien zurück, lebt heute mit Katze Flora in einer kleinen Gemeindebauwohnung in Wien-Landstraße, hat zudem eine Erwachsenenvertretung. Doch der Weg bis dahin war ein langer und harter: "Ich war ja mit zahlreichen Beruhigungsmitteln zugepumpt, war wie ein Zombie. Ich habe dann einen Entzug gemacht und konnte die Medikamente stark reduzieren", meint die 49-Jährige, bei der eine Borderline-Störung mit psychotischen Episoden diagnostiziert wurde. Zudem leidet sie an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Neben den zahlreichen seelischen Wunden gibt es auch viele körperliche: "Ich wollte mehrmals aus der Psychiatrie flüchten. Ich bin in Panik von einer Mauer und aus einem Fenster gesprungen. Dabei habe ich mir die linke Ferse zertrümmert, das Knie verletzt, und einen Augenhöhlenbruch hatte ich auch. Zudem habe ich Epilepsie, Herzprobleme und vergangenes Jahr wurde Gebärmutterhalskrebs bei mir festgestellt und erfolgreich behandelt", erzählt Roswitha N., die von einer Waisenpension lebt.
2022 fing die Wienerin gemeinsam mit der damaligen Patientenanwältin an, ihre Krankengeschichte aufzurollen. Anfang 2024 reichte sie dann einen Antrag auf Heimopferrente (derzeit 421,60 Euro monatlich) ein. Die Volksanwaltschaft befand die Schilderungen von Gewalt von Roswitha N. zwar als glaubwürdig, aber diese "enthalten im Übrigen keine Zuordnung der Gewalthandlungen zu der behaupteten Unterbringung im Jahr 1991", heißt es.
haben Personen, die zwischen 10. Mai 1945 und 31. Dezember 1999
• in einem Kinder- oder Jugendheim (Internat) des Bundes, eines Bundeslandes oder einer Kirche,
• als Kind oder Jugendlicher in einer Kranken-, Psychiatrie- oder Heilanstalt oder vergleichbaren Einrichtung des Bundes, eines Bundeslandes, einer Gemeinde (eines Gemeindeverbandes) oder einer Kirche
• oder in einer Pflegefamilie
untergebracht waren und während dieser Unterbringung Opfer eines Gewaltakts wurden.
Im August 2024 wurde daher der Antrag von der Rentenkommission abgelehnt, denn: "Im Patientenakt der Antragstellerin ist diese Unterbringung (ab 1991) nicht dokumentiert. Die Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren (der Klinik, Anm.) war auch bereits abgelaufen. Für eine Unterbringung vor Volljährigkeit sprechen nur wenige vage Indizien."
"Heute" fragte beim zuständigen Volksanwalt Bernhard Achitz nach, wie es zu dieser Entscheidung kommen konnte: "Leider können wir zu einzelnen Empfehlungen der Rentenkommission nicht öffentlich Stellung nehmen. Allgemein gesagt, steht die Heimopferrente Menschen zu, die Opfer von Gewalt in Kinderheimen oder ähnlichen Einrichtungen geworden sind, bevor sie 18 Jahre alt wurden. Das und die länger dauernde Unterbringung in Fremdpflege, der sie sich nicht entziehen konnten, muss der Rentenkommission nachgewiesen bzw. in einem Clearingverfahren gegenüber Psycholog*innen glaubhaft gemacht werden", heißt es.
Und weiter: "Die Volksanwaltschaft empfiehlt nur in seltenen Fällen die Ablehnung der Heimopferrente: 2023 wurde in 345 Fällen eine positive und in 22 Fällen eine negative Empfehlung auf Zuerkennung einer Heimopferrente ausgesprochen und den Entscheidungsträgern übermittelt. Gegen eine negative Entscheidung der dafür zuständigen Pensionsversicherung bzw. des Sozialministeriums kann der Rechtsweg beschritten werden."
Und genau das hat Roswitha N., für die die Ablehnung völlig unverständlich ist, gemacht: Sie hat Klage eingereicht. Am 15. Jänner fand die erste Verhandlung am Wiener Arbeits- und Sozialgericht statt.