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"The Chant" im Test – nervenzerfetzender Sekten-Horror
"The Chant" macht aus einem erholsamen spirituellen Trip einen Sekten-Horror der Extraklasse. Das Game ist eines der Grusel-Highlights des Jahres.
Einfach mal weg von allem und so richtig ausspannen, es sich gut gehen lassen und vor allem auch etwas für die geistige Gesundheit tun. Den Wunsch teilen wohl viele Spielerinnen und Spieler mit Jess, der Protagonistin des neuen Einzelspieler-Abenteuers "The Chant" (Xbox Series X/S, PS5 und PC) aus dem Hause Prime Matter und Brass Token. Doch der vermeintliche Rückzugsort auf einer idyllischen Insel wird für die junge Frau schnell zum Ort unglaublicher Schrecken und der Aufenthalt zum Kampf ums Überleben. "Heute" hat "The Chant" getestet und sich dabei überraschend gut gegruselt.
"The Chant" serviert nicht nur eine spannende Horror-Story fernab der typischen Grusel-Pfade, sondern auch knackig-gruseliges Gameplay. Der Auftakt ist allerdings eher typisch: Protagonistin Jess ist von einem schweren Schicksalsschlag traumatisiert und seit Jahren deshalb nicht mehr die Alte. Eine ihrer Freundinnen kann dabei nicht mehr zusehen und lädt Jess ein, das Prismic Science Spiritual Retreat auf Glory Island zu besuchen. Dort nimmt die Story aber schnell neue Fahrt auf, denn statt eines Urlaubsidylls wartet auf der Insel eine Sekte voller völlig Traumatisierter, die für Schrecken sorgen.
Die schlimmsten Ängste werden plötzlich Wirklichkeit
Das Game fackelt auch nicht lange mit halbgaren Erklärungen und dubiosen Hintergrundgeschichten herum, sondern geht direkt ins Eingemachte. So geht ein Ritual zur Selbstheilung aufgrund der Teilnehmer-Zusammensetzung mächtig schief und öffnet scheinbar ein Portal in eine fremde Dimension, aus der ein mysteriöser Nebel ebenso wie schreckliche Monster dringen und es auf die Insel-Anwesenden abgesehen zu haben scheinen. Während wir uns noch fragen, was da eigentlich passiert ist, müssen wir zu unserem Horror auch noch feststellen, dass die anderen Teilnehmer völlig verändert sind.
Es beginnt eine Teufels-Spirale, denn die weiteren Charaktere sind scheinbar zu ihren Fleisch gewordenen Ängsten und Traumata mutiert, von denen sich wiederum die bösen Kräfte nähren, die über die Insel hergefallen sind. In all dem Chaos bleibt für Jess auch nur eine Möglichkeit, nämlich zu versuchen, die ursprünglichen Teilnehmer des Rituals für einen neuen Versuch zusammenzubringen. Leichter gesagt als getan, denn die sind quer über die Insel verstreut und auf der Suche nach ihnen trachten uns die dämonenhaften Kreaturen nach dem Leben. Ein Überlebenskampf der Extraklasse hat begonnen.
Gameplay überrascht wenig, die Story dafür umso mehr
Für Jess steht anfangs deshalb eine ausgiebige Insel-Erkundung auf dem Programm, die leider nicht sehr offen ausgefallen ist. Wie in anderen Horror-Abenteuern wie "The Quarry" oder "Until Dawn" ist der Bewegungsspielraum recht begrenzt und der Pfad sehr linear ausgefallen. Hier und da bieten sich aber kleine Ablenkungen am Pfad und schließlich wollen auch alle Objekte in einem Areal gefunden werden, die sich zu einer Art Schlüssel zusammenfügen und den nächsten Abschnitt des Spiels öffnen. Das Coole am Game: Während das Gameplay wenig überrascht, tut es die Handlung im Verlauf immer mehr.
Die vorkommenden Charaktere sind grundsolide erzählt und verhalten sich beeindruckend realistisch, Schock-Momente wechseln mit sich langsam aufbauenden Spannungs-Szenen gut ab und am Ende des Titels steht eine Enthüllung, die Horror-Fans vom Hocker haut. So geht richtiger Grusel! Einige frische Ideen haben die Entwickler aber dennoch auch in das Gameplay verpackt. Neben dem Suchen von Objekten stehen auch einige gut geschriebene Dialoge mit anderen Figuren am Programm und ganz so linear geht es dank einer Schnellreise-Funktion zu anderen Orten dann auch nicht unbedingt zu.
Von einfachen Insel-Waffen bis zu Psycho-Kräften
Was beim Gameplay aber besonders überrascht und erfrischt ist die Möglichkeit, auch zu kämpfen. Und das auf durchaus interessante Art und Weise. Zum einen darf man sich gegen die Horror-Kreaturen mit den Materialien zur Wehr setzen, die man so in einem spirituellen Retreat finden kann. So darf man mit einer simplen Crafting-Funktion Stöcke und Pulver wild zusammenmixen und so kuriose Waffen wie Gewürzkeulen oder Feuer-Zweige erschaffen. Über ein eigenes Skill-System dürfen mit Fortschritt im Spiel zudem einige Status-Effekte aufgebessert werden. Der Clou liegt aber wieder mal im Geist.
Mithilfe der einmal mehr sehr mysteriösen Prismen-Energie können wir verschiedene Talisman-Steine auf der Insel auffinden und deren seltsame Kräfte nutzen. So kann Jess etwa Monster mit ihrem Geist von sich stoßen oder die Wesen für einen kurzen Augenblick bewegungsunfähig machen. Die Kämpfe mit den Kräften spielen sich ebenfalls recht simpel, aber kurzweilig und bieten durch die verschiedenen Steine auch etwas Raum zum Experimentieren. Ebenfalls besonders an den Kräften: Während jeder Teilnehmer eine zu besitzen scheint wird bis zum Ende nie ganz klar, ob sie echt oder nicht sind.
Ängstliche Protagonistin statt furchtlose Elitekämpferin
Anders als in vielen weiteren Horror-Games bestimmt übrigens über Erfolg und Misserfolg, wie gut wir uns in den Kämpfen schlagen. Heißt: Die Szenen sind nicht gescriptet und statt schneller Quicktime-Events gibt es kleine Scharmützel, in denen wir zuschlagen und ausweichen können. Zwei Dinge fallen dabei auf. Erstens ist es nicht nötig, sich allen Schrecken zu stellen, denn es gibt die oft sinnvollere Möglichkeit, einfach die Flucht zu ergreifen. Zweitens merkt man der sich teils unbeholfen bewegenden Jess realistischerweise an, dass sie Angst um ihr Leben hat und sich noch nie zur Wehr setzte.
Es ist ein atemberaubend gutes Detail, dass aus einer schwer traumatisierten jungen Frau nicht plötzlich mit dem ersten Aufkommen von Horror eine Elitekämpferin wird. Der Realismus ist lobenswert, mit jeder panischen Ausweichrolle oder jedem zaghaften Zuschlagen wird den Spielern klar, dass sich ihre Protagonistin in "The Chant" wirklich zu Tode fürchtet und so gut sie kann um ihr eigenes Leben kämpft. Übrigens wartet am Ende des Spiels neben dem bombastischen Ende auch noch eine tolle Veränderung bei den Kämpfen, die wir aus Spoiler-Gründen an dieser Stelle aber nicht verraten wollen.
Auch etwas Statuswerte-Management kommt ins Spiel
Auch etwas Statuswerte-Management gibt es in "The Chant", was leicht an Horror-Hits wie "Amnesia" erinnert. So müssen wir aufpassen, dass Jess nicht nur nicht die Gesundheit ausgeht, sondern ihre Psyche stabil bleibt. Die wird nämlich immer angeschlagener, je länger man den Monster aus dem Portal gegenübersteht, aber auch, wenn man zu lange in der Dunkelheit verbringt. Beide Status-Balken hält man mit Items in Balance, die überall auf der Insel zu finden sind. Fällt dagegen die Psychon von Jess zusammen, flieht sie panisch, ist ihre Gesundheit am Ende, wartet der grausame Spieltod.
Passend zum spirituellen Retreat: Die Balken werden von Meditationspausen ebenso in Balance gehalten wie von Pulvern und Räucherwaren. Abgerundet wird das Management dadurch, dass auch die Prismenkräfte Energie der Balken verbrauchen und sich damit nicht einfach wild spammen lassen, sondern taktisch sinnvoll eingesetzt werden wollen. Das Spiel bietet dabei einen guten Mix aus begrenzten Ressourcen und Momenten, in denen wir verleitet werden, unsere Kräfte einzusetzen. Das Gefühl, zu wenig für die kommenden Schrecken gerüstet zu sein, ist dabei allgegenwärtig. Gut gemacht!
"The Chant" ist ein nervenzerfetzender Sekten-Horror
Neben der großen Dimensions-Horror-Story offenbar sich übrigens ein weiterer Schrecken in sammelbaren Secrets, die eine große Verschwörung und die eigentlich Geschichte der Insel aufdecken, ein netter Bonus, der in Briefen und anderen Sammlerstücken erzählt wird. Für einen immensen Wiederspielwert sorgt außerdem noch, dass die von den Spielern zu treffenden Entscheidungen bei Monsterbegegnungen und in Dialogen die Geschichte verändern können. Diese Auswirkungen zeigen sich teils sehr spät im Spiel und es ist durchaus wert, das Game noch einmal ganz anders zu zocken.
In technischer Hinsicht ist "The Chant" ebenfalls gelungen: Sowohl Spiel-, als auch Gameplay-Grafik sehen fantastisch aus, die Monstereffekte sind beeindruckend und das Spiel mit Licht und Dunkelheit schafft eine Atmosphäre der Angst. Dazu kommt eine leicht zu lernende Steuerung und eine logisch und konsequent erzählte Geschichte. "The Chant" ist ein nervenzerfetzender Sekten-Horror, der Spielerinnen und Spieler in mehr als nur einem Durchlauf in seinen Bann ziehen wird und dank toller Grafik, starker Story und einem innovativen Setting zu einem der Horror-Highlights des Jahres 2022 wird.