Ukraine
Spionage, Verrat– darum greift Selenski Geheimdienst an
Wegen sich häufender Verdachtsfälle von Landesverrat greift der ukrainische Präsident Selenski bei den Sicherheitsbehörden und der Justiz durch.
Präsident Selenski hat neben Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa auch den Chef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, Iwan Bakanow, entlassen. Dutzende Mitglieder ihrer zwei Behörden hätten mit Russland kollaboriert, begründete der ukrainische Präsident den Paukenschlag. Gegen bisher 651 Beamte der Staatsanwaltschaft und der Sicherheitsdienste seien Verfahren wegen Hochverrats eingeleitet worden.
"Eine solche Ansammlung von Verbrechen gegen die Grundfesten der staatlichen Sicherheit wirft ernsthafte Fragen an die zuständigen Verantwortlichen auf", sagte der 44-Jährige. Jede dieser Fragen werde eine "angemessene Antwort" erhalten, so Selenski mit Blick auf 651 jetzt eingeleitete Verfahren gegen Beamte der Staatsanwaltschaft und der Sicherheitsdienste wegen Hochverrats.
Seit Kriegsbeginn häuften sich stattdessen die Verdachtsfälle gegen führende SBU-Leute im Süden und Osten des Landes. Diese hätten in den ersten Stunden und Tagen des russischen Einmarsches zum Fall der strategisch wichtigen Stadt Cherson beigetragen, so ein Vorwurf. So ist bis heute noch immer unklar, wieso die Antonowsky-Brücke über den Dnipro-Fluss nicht gesprengt worden war, um die rasche Besetzung der Stadt zu verhindern.
Nicht gesprengte Brücke, Minen und Verrat
Der geschasste Bakanow ist ein Jugend- und langjähriger Geschäftsfreund Selenskis und seit zwei Jahren Geheimdienst-Chef. Wegen seiner fehlenden Erfahrung stand er schon länger in der Kritik, zumal auch er die angekündigten Reformen im SBU-Riesen-Apparat nicht durchsetzte.
Zudem hat sich herausgestellt, dass der SBU-Leiter in Cherson entgegen den Anweisungen aus Kiew die Evakuierung der Stadt angeordnet hatte. Und dass der Leiter des Zentrums für Terrorismusbekämpfung in Cherson den vorstoßenden russischen Streitkräften Hinweise zu ukrainische Minen und Koordination von Kampfjet-Routen durchgab, während er in einem Konvoi in den Westen floh.
Doppelspion in flagranti ertappt
Der SBU-Abteilungsleiter für die Krim, Oleg Kulinich, wird dagegen verdächtigt, als russisch-ukrainischer Doppelagent schon länger Vorkriegs-Vorbereitungen sabotiert und vor dem russischen Angriff Minen entlang der Demarkationslinie geräumt zu haben.
Dies habe es "den Invasoren ermöglicht, den Süden der Ukraine schnell zu erobern", schreibt der Ukraine-Kenner Viktor Kovalenko. Kulinich wurde letzten Freitag verhaftet – offenbar auf frischer Tat, als er Verschlusssachen an Russland weitergeben wollte. Ihm drohen wegen Spionage und Verrat mindestens 15 Jahre Haft.
Ein riesiger, unterwanderter Geheimdienst
Die schiere Zahl der Fälle von Landesverrat mache deutlich, wie groß die Herausforderung der russischen Infiltration für die Ukraine sei, schreibt die Nachrichtenagentur Reuters. Tatsächlich gelten die ukrainischen Sicherheitsdienste seit Jahren als korrupt und unterwandert.
Der traditionell mit Inlandsaufklärung und der Spionageabwehr betraute ukrainische SBU, der auch Wirtschaftsverbrechen und Korruption bekämpfen soll, ist die Nachfolgebehörde des KGB aus der Sowjetzeit. Mit über 30.000 Mitarbeitenden ist der Dienst siebenmal so groß wie der britische MI5 und fast so groß wie das FBI mit 35.000 Beschäftigten (die Ukraine ist 16-mal kleiner als die USA).
"Kiew hat Jahre damit vergeudet, die Behörde nicht zu überholen, obwohl viele einen groß angelegten russischen Angriff befürchteten", sagt Alex Kokcharow, ein Länderrisikoanalyst von S&P Global, dem "Politico"-Magazin.
"Eine riesige politische Hypothek" für Selenski
Nachdem Selenski 2019 die Präsidentschaftswahlen erdrutschartig gewonnen hatte, beauftragte er seinen Freund Bakanow damit, den SBU auszumisten, um die Entschlossenheit der neu gewählten Regierung zu demonstrieren und der Europäischen Union zu beweisen, dass Kiew es mit Reformen ernst meint. Dass das bis jetzt nicht gelungen ist, haben die aktuellen Entlassungen und Verhaftungen in den höchsten Reihen der Sicherheitsdienste deutlich gemacht.