Klimatologe warnt
Schwerkranke Mutter Erde "sofort auf Intensiv verlegen"
Das Klima kollabiert schneller, als bisher gedacht. Johan Rockström fordert eine internationale Besinnung auf "planetare Gemeinschaftsgüter".
Die Erde ist resilient und kann viele Störungen ausgleichen. Die Menschheit setzt aber gerade alles daran, diese Fähigkeit völlig auszureizen. Die derzeitige Marschrichtung: Kollaps. Die Geschwindigkeit der Veränderung: gravierend unterschätzt.
"Die Dinge verändern sich schneller als gedacht, die Risiken nehmen zu. Je besser wir das Erd- und das Klimasystem wissenschaftlich verstehen, umso größer wird unsere Besorgnis", fasst der renommierte Klimatologe Johan Rockström in einem Interview mit der "Zeit" die Quintessenz der internationalen Forschungsarbeit der vergangenen 20 Jahre zusammen.
Der gebürtige Schwede ist einer der beiden wissenschaftlichen Direktoren des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit globaler Nachhaltigkeit und Resilienz des Klimasystems.
Plötzlicher Temperaturanstieg noch unerklärlich
Die aktuellen Messdaten zur rapiden Erwärmung der Ozeane bezeichnet Rockström als "schockierend". 2023 und auch Anfang 2024 habe es plötzliche Temperatursprünge gegeben, die mit den derzeitigen Klima- und Ozeanmodellen "nicht gut erklärbar" seien.
"Wir wissen also noch nicht, warum plötzlich die Temperaturen so ansteigen. Es könnte sein, dass das mit der Selbstregulationskraft der Erde zu tun hat", sagt er. Normalerweise könne die Erde Störungen ausgleichen, ihre Ökosysteme absorbieren den Löwenanteil des ausgestoßenen CO₂ und der zusätzlichen Wärme, rund 90 Prozent davon landen in den Ozeanen.
Nur 2 Prozent entscheiden alles
"Das Erdsystem puffert einen Großteil des Wärmestresses ab, der durch unsere Emissionen entsteht". Nur etwa zwei Prozent der vom Menschen erzeugten Wärme kann nicht gebunden werden. "Die Sorgen und Nöte, die uns umtreiben, werden von diesen 2 Prozent erzeugt", weiß der Resilienzforscher.
Zur Selbstregulationskraft unseres Planeten gehören auch Mechanismen wie die Eisschmelze, die bei steigenden Temperaturen einen kühlenden Effekt auf das System hat. Doch ist das Eis erst einmal weg, kehrt sich das ins Negative um. An Stelle der ehemals weißen Eisflächen bleiben dunkle Böden oder Ozeane zurück, welche weniger Sonneneinstrahlung ins Weltall zurück reflektieren (Stichwort Albedo) und somit erst recht zur Erwärmung beitragen.
Mutter Erde ist "schwer krank"
"Man könnte sagen: Die Erde tut alles, um uns zu helfen. So ähnlich wie eine Mutter, die ihre Kinder beschützen will. Allerdings ist diese Mutter jetzt selbst schwer krank", warnt Rockström. Er sieht die Zeit, die für Gegenmaßnahmen bleibt, rasant ablaufen. Es gebe bereits Anzeichen, dass die Selbstregulierungskraft der Erde am Anschlag steht.
"An Land, im Regenwald wie in den Laub- und Mischwäldern in der gemäßigten Klimazone, sinkt die Aufnahmekapazität für CO₂". In den Ozeanen sei das bisher nicht der Fall gewesen, die beobachteten Temperatursprünge könnten dahingehend ein erstes Warnsignal sein. Im schlimmsten Fall würde der Ozean diese Absorptionskapazität verlieren und möglicherweise sogar mehr Wärme abgeben, als er aufnimmt.
Der Forscher bedient sich einer Analogie aus der Medizin: "Wir müssten die Patientin sofort auf die Intensivstation verlegen. Die meisten Menschen glauben immer noch, sie habe eine leichte Grippe, dabei ist es eher eine Krebserkrankung. Da braucht es eine drastische Therapie."
„Man würde nie in ein Flugzeug steigen, das mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzt.“
Im gesellschaftlichen Bewusstsein sei es das Ausmaß der Krise noch nicht angekommen, bedauert Rockström: "Dabei verstehen eigentlich alle, dass wir ein Problem haben, von der UN bis zur Weltbank."
Das Risiko vieler Klima-Folgen würde unterschätzt, sagt mit Blick auf einen möglichen Kollaps der wichtigen Atlantik-Strömung AMOC: "Risiko ist gleich Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schwere der Auswirkungen. Die Wahrscheinlichkeit für einen AMOC-Kollaps ist, nach allem, was wir heute wissen, 10 Prozent oder höher. Das klingt nach wenig. Aber eine 10-prozentige Wahrscheinlichkeit hätte katastrophale Auswirkungen: Das ergibt ein enorm hohes Risiko. Man würde nie in ein Flugzeug steigen, das mit 10-prozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzt."
Bis heute seien der Wissenschaft 16 Kipppunkte bekannt, die zum einen wichtige Systeme zur Regulierung des weltweiten Klimas betreffen und an eine kritische Grenze haben, ab der ihr Zustand unumkehrbar in einen anderen, für uns deutlich schlechteren kippt.
"Fünf dieser Kipppunkte erreichen wir sehr wahrscheinlich, wenn sich die Erde um 1,5 Grad erwärmt", konstatiert der schwedische Forscher. Dabei gehe es um die Eisschilde in Grönland und der Westantarktis, tropische Korallenriffe, die Atlantik-Strömung und die Permafrost-Regionen.
Große Sorge um Amazonas-Regenwald
Persönlich sei er zusätzlich um den Amazonas-Regenwald höchst besorgt: "Bisher nahmen wir an, er sei erst bei einer Temperaturzunahme von 3 bis 5 Grad bedroht. Aber es könnte viel schneller gehen."
Dieser Befürchtung liegt ein folgenschweres Zusammenspiel von Erwärmung und Abholzung zugrunde. Eine aktuelle Studie aus Brasilien vom Februar 2024 zeigt, dass durch das Schlagen unzähliger Schneisen in das vormals dichte Blätterdach, die allgemeine Luftfeuchtigkeit deutlich abnimmt. "Der Regenwald kann sich nicht mehr selbst erhalten und wird nach und nach zur Savanne."
Aktuelle Schätzungen der Forscher markieren diesen Kipppunkt bei 20 Prozent Abholzung und einem durchschnittlichen Temperaturanstieg von 1,5 Grad und darüber. Rockström: "Heute haben wir 17 Prozent Abholzung und 1,48 Grad – wir sind also sehr nah dran."
"Wir als Menschheit müssen Planeten steuern"
Politische Bekenntnisse zu Gegenmaßnahmen wie das Pariser Klimaabkommen gebe es genug. Eigentlich habe man quer über alle Verträge "alles zusammen, um den Kollaps des planetaren Systems abzuwenden", sagt er. Nur an der Umsetzung kranke es weiterhin.
"Was so schwierig zu vermitteln ist, ist die Tatsache, dass wir als Menschheit nun den Planeten steuern müssen." Gleichzeitig erteilt der Klimatologe wilden Geoengineering-Ideen wie riesige Spiegel im All eine komplette Absage. Solche Eingriffe seien "gefährlich" und hätten potenziell unvorhersehbare Folgen auf alles Leben.
Planetare Gemeinschaftsgüter
Er und einige Kollegen haben deshalb nun das Konzept sogenannter planetarer Gemeinschaftsgüter und Grenzen formuliert und im Magazin PNAS vorgeschlagen. "Der Amazonas-Regenwald ist ein solches Gemeingut: Er ist wichtig für das gesamte Erdklima, sein Schutz sollte in unser aller Interesse sein, [...] nicht nur Brasilien die Verantwortung dafür tragen." Selbiges gelte auch für die anderen Kipppunkt-Systeme rund um den Globus.
Die Aufsicht könne eine internationale Kontrollbehörde übernehmen – ähnlich dem UN-Sicherheitsrat, nur eben für globale Klima-Maßnahmen – "um die Zukunft der Menschheit zu sichern", so die Vision.
In globalen Budgets denken
Ganz nebenbei würde das eine fundamentale Änderung des Rechtssystems einläuten: "Erst wenn man anerkennt, dass es globale Budgets für Stoffe wie Kohlendioxid, Stickstoff oder Phosphor gibt, kann man Regeln zur gerechten Verteilung dieser Stoffe aufstellen."