Muss Putin Krieg bald beenden?
"Russische Wirtschaft nähert sich ihrem Kipppunkt"
Die Verluste an der Ukraine-Front sind enorm. Putins Kriegswirtschaft steuert derweil direkt auf ihren Kollaps zu, sagt Analyst Anders Puck Nielsen.
Seit 965 Tagen führt Wladimir Putin seinen blutigen Krieg gegen die Ukraine. Ohne Rücksicht auf die eigenen Verluste wirft seine Armee Welle um Welle an Männern und Material in den "Fleischwolf". Die Erstarrung der Front hat zu einem brutalen Abnutzungskrieg geführt, der beiden Seiten massiv zusetzt.
"Das bedeutet, dass der Krieg weitgehend zu einem Produktionskrieg geworden ist", erklärt der dänische Militäranalyst und Marineoffizier Anders Puck Nielsen (44). Beide Seiten würden in den Kämpfen Kapazitäten verlieren und darum kämpfen, diese Verluste durch neue Ausrüstung aus den Fabriken zu ersetzen.
Russische Verluste in der Ukraine
Menschen: Mindestens 70.112 Russen sind gefallen. Das ergab die jüngste BBC-Auswertung öffentlich einsehbarer und verifizierbarer Nachrufe Ende September 2024. Die wahre Todeszahl dürfte deutlich darüber liegen.
Material: Mindestens 10.345 gepanzerte Kampffahrzeuge, von Panzern über Truppentransporter, hat die russische Armee bereits verloren. Davon wurden 7.555 zerstört, so die laufende ORYX-Analyse. Darin gewertet werden nur visuell, also durch Bilder und Videos, bestätigte Verluste.
Sowohl Russland als auch die Ukraine haben deshalb fast auf Kriegswirtschaft umgestellt. Diese sei aber fast schon per Definition nicht lange durchhaltbar: "Sie wollen diesen Krieg unbedingt gewinnen. Also geben sie mehr Geld für die Produktion von Rüstungsgütern aus, als sie haben, und hoffen, dass der Krieg gewonnen ist, bevor die Wirtschaft zusammenbricht."
Putin konnte seine Rüstungsproduktion bisher durch dick gepolsterte Rücklagen aus seinen früheren und laufenden Erdgas- und Öl-Exporten finanzieren. Doch dieser Staatsschatz schwindet zusehends – und die Fassade der heilen russischen Wirtschaft bekommt erste Risse, so Anders Puck Nielsen.
Inflation und Sanktionen schmerzen
"Wie jeder Ökonom bestätigen wird, kann man keine nachhaltige Volkswirtschaft betreiben, indem man Jahr für Jahr riesige Geldsummen in die Gesellschaft pumpt und dann davon ausgeht, dass alles gut wird. Wenn man das tut, wird die Wirtschaft irgendwann überhitzen und die Inflation wird zunehmen. Und genau das sehen wir derzeit in Russland."
All dieses zusätzlich Geld aus der Staatskasse lässt die russische Inflation davon galoppieren. Zwar liege diese gesamtstaatlich offiziell bei nur rund 7 Prozent, dieser Durchschnitt maskiere aber laut dem dänischen Experten die gravierenden Unterschiede zwischen den einzelnen Bereichen. So kaufe etwa die Regierung weiterhin ihre Panzer zum Fixpreis ein, was den Schnitt senke, gleichzeitig würden Dinge des täglichen Gebrauchs für Haushalte deutlich teurer.
„Bis Ende 2024 dürfte die jährliche Inflation die im Juli prognostizierte Spanne von 6,5-7,0 % überschreiten.“
Die russische Zentralbank versucht, diese Entwicklung mit Erhöhung der Leitzinsen – zuletzt auf 19 Prozent – zu zügeln. Das bremst aber auch die zivile Wirtschaft aus, wo kaum noch Investitionen getätigt werden. Diese Mehrausgaben bräuchte es aufgrund der internationalen Sanktionen aber. Obwohl Russland viele von ihnen umgehen kann, bindet der zusätzliche Aufwand enorme Ressourcen und strapaziert die angespannte Wirtschaftslage weiter.
Lohnschlacht am Arbeitsmarkt
Dazu kommt ein sich stetig verschärfender Arbeitskräftemangel. Die Arbeitslosigkeit hat nach offiziellen russischen Angaben einen "historischen Tiefststand" erreicht. Das hat aber einen fatalen Hintergrund: Die russische Armee lockt mit inzwischen extremen Solderhöhungen und monetären Boni jeden Monat rund 30.000 bis 35.000 Männer in den Kriegsdienst.
Puck Nielsen hebt die wirtschaftlichen Folgen hervor: "Das ist keine nachhaltige Art, eine Armee in einem langen Zermürbungskrieg zu führen. Man kann nicht einfach alle paar Monate die Prämien verdoppeln oder verdreifachen, weil das die Löhne nicht nur für den Militärdienst, sondern für die gesamte Gesellschaft, einschließlich der anderen Sektoren, in die Höhe treibt".
Denn im Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt müsse auch die Rüstungsindustrie ihre Löhne erhöhen. Und dann müssten andere Sektoren nachziehen, oder in Gefahr laufen, immer mehr eigene Stellen nicht mehr besetzen zu können.
„Es besteht nach wie vor ein erheblicher Arbeitskräftemangel. Das Lohnwachstum ist nach wie vor hoch und übersteigt das Wachstum der Arbeitsproduktivität.“
Gerade in den ärmeren, ländlichen Regionen, aus denen der Großteil der Rekruten stamme, käme es dadurch vordergründig zu einem Anstieg des Wohlstandes. Das sei auch der Grund, warum viele Russen die negativen wirtschaftlichen Folgen des Krieges noch nicht im eigenen Geldbörserl spüren würden. Langfristig werde sich die Belastung aber auch dort bemerkbar machen.
Anders Puck Nielsen (*26.11.1979 in Herlev) ist ein dänischer Marineoffizier, Ausbildner und Militäranalyst. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er durch seinen englischsprachigen Youtube-Kanal bekannt, auf dem er detaillierte Analysen zum Ukraine-Krieg und anderen militärischen Themen veröffentlicht. Er möchte damit einen Beitrag zur Aufklärung leisten: "Die Bedeutung, die der Ukraine-Krieg für die europäische Sicherheit hat, ist wirklich groß, und diese Perspektive wird oft übersehen." Seinem Kanal folgen mittlerweile rund 200.000 Abonnenten. Dazu betreibt er den Podcast "Krigskunst".
Sowjet-Vermächtnis verschossen
Auf dem Schlachtfeld selbst könnte sich ebenfalls bald eine Veränderung abzeichnen. Denn bisher hatte die russische Rüstungsindustrie die massiven Verluste an Geräten mit revitalisierten Sowjetbeständen abdecken können, Neubauten machten nur einen kleinen Teil aus. Diese Lager leeren sich aber zusehends: "Russland steht vor der Situation, dass im Laufe des nächsten Jahres die wichtigsten Arten von Material ausgehen werden."
Das heiße nicht, dass Putin die Panzer ausgehen würden. Es heißt aber, dass – so nicht noch Altbestände aus dem Iran oder Nordkorea importiert werden können – die russische Rüstungsindustrie alle selbst neu bauen müsste. Neubauten sind aber teurer und arbeitsaufwändiger.
Russland will 2025 Krieg beenden
All diese Probleme werden sich nach Einschätzung von Anders Puck Nielsen stetig verschärfen und dürften im kommenden Jahr deutlich sichtbarer werden: "Deshalb denke ich, dass Kyrylo Budanow mit seiner Einschätzung, dass Russland versuchen muss, den Krieg 2025 oder spätestens Anfang 2026 zu gewinnen, recht hat", sagt er mit Verweis auf die Aussage des ukrainischen Geheimdienstchefs: "Denn wenn wir über diesen Punkt hinauskommen, wird die russische Kriegswirtschaft nicht mehr in der Lage sein, die Kriegsanstrengungen auf dem derzeitigen Niveau aufrechtzuerhalten."
Putin verliert, "wenn wir das wollen"
Für den dänischen Offizier ist es deshalb eine "politische Entscheidung des Westens", ob die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann: "Wenn wir die Unterstützung für die Ukraine auf hohem Niveau halten, sehe ich nicht, wie Russland sich durchsetzen kann". Weil die USA und Europa eben nicht auf Kriegswirtschaft umgestellt hätten, könne man Kiew nachhaltig mit dem Nötigen versorgen. Nachsatz: "Wenn wir das wollen."
Die Bilder des Tages
Auf den Punkt gebracht
- Der dänische Militäranalyst Anders Puck Nielsen sieht Anzeichen dafür, dass die russische Wirtschaft aufgrund des anhaltenden Krieges gegen die Ukraine an ihre Grenzen stößt
- Die massiven Ausgaben für Rüstungsgüter und die steigende Inflation belasten die Wirtschaft zunehmend, und es wird erwartet, dass Russland den Krieg bis 2025 oder spätestens Anfang 2026 beenden muss, da die Kriegswirtschaft sonst nicht mehr aufrechterhalten werden kann