Alexi Melnychenko
Mutigster Barista der Welt serviert unter Dauerbeschuss
Alexi Melnychenko (27) ist wohl der mutigste Barista der Ukraine, wenn nicht der Welt. In Cherson serviert er Espresso unter Dauerbeschuss.
Stimmungsbild aus der beinahen Geisterstadt Cherson. "20-Minuten"-Korrespondentin Ann Guenter berichtet aus der wieder befreiten Stadt am Ufer des Dnirpo über ihre Erlebnisse:
Alexi Melnychenko (27) mahlt geduldig Kaffeebohnen, zeichnet kunstvoll Blumen und Herzen in den Schaum der Lattes und verschüttet keinen Tropfen, während Grad-Mehrfachraketen über das "Prostir" donnern.
Das kleine Café liegt zwei Häuserreihen hinter dem Ufer des Dnipro. 1,6 Kilometer entfernt sind auf der gegenüberliegenden Flussseite russische Truppen stationiert. Sie feuern fast im Minutentakt auf Cherson, und es ist entsprechend laut. Wände und Fenster sind mit dunklen Styroporplatten verkleidet, was die Geräusche dämpft und einem ein falsches Gefühl von Sicherheit gibt.
Normalität in der Abnormalität des Krieges
Alexi ist als einziger des vierköpfigen Teams diesen Mai nach Cherson zurückgekehrt. Als die russischen Soldaten die Stadt im Frühjahr 2022 eingenommen hatten, waren er und seine Freundin geflohen. Nach Odessa, dann nach Kiew. Beide fanden dort weder Arbeit noch Freude. "Wir hatten Heimweh", sagt Alexi.
Im "Prostir" (ukrainisch "Raum/Platz") hat er bereits vor dem Krieg gearbeitet. "Die Besitzer meinten, ich könne es wieder öffnen und selbst über die Öffnungszeiten entscheiden."
Dabei gehe es um mehr als das Geschäft. "Die Menschen erinnern sich daran, wie es vor dem Krieg war. Sie suchen einen Ort der Normalität, wo sie andere treffen und sich austauschen können", sagt der 27-Jährige. "Es ist schön, den Leuten dieses Gefühl geben zu können."
"Wir lassen uns nicht vertreiben"
Heikle Situationen gebe es immer wieder. Letzte Woche seien Mörser auf der Straße vor dem Café eingeschlagen, alle Fenster gingen trotz der Verkleidung kaputt. "Es war nachts, Gott sei Dank war niemand hier", sagt Alexi. Wenn es ganz schlimm sei, gingen er und die Gäste aufs WC, wo es keine Fenster, aber dicke Mauern gibt. Alexi ist bewusst, dass sein Leben hier, in diesem Café beim Fluss, jederzeit enden könnte. "Irgendwann verliert der Gedanke daran seinen Schrecken", sagt er.
In Cherson lebten vor dem Krieg gut 300.000 Menschen, geblieben sind zwischen 20 und 30 Prozent. "Die, die zurückgekommen sind, symbolisieren in ihrem Widerstand den Wiederaufbau nicht nur der Stadt, sondern des ganzen Landes", so Alexi. "Wir lassen uns nicht vertreiben. Wer damit ein Problem hat, soll die Ukraine verlassen."
Nicht nur durch den Fluss geteilt
Nach der Befreiung ist das Misstrauen geblieben. Bis heute ist unklar, wieso Cherson im Frühjahr 2022 fast kampflos fiel. Im Verdacht stehen Teile der damaligen Behörden und Einwohnende, die Informationen durchgaben. "Die Stadt ist nicht nur durch den Fluss geteilt", sagt Alexi. Er habe selbst Verwandte, die mit den Russen kooperiert hätten. Mit den wenigen Gästen, die im "Prostir" sitzen, spricht Alexi Ukrainisch und Russisch. "Ich bemühe mich, nur Ukrainisch zu sprechen, aber verfalle aus Gewohnheit ins Russische", lacht er zum Abschied.
Draußen donnert und zischt es über den Köpfen. Ein Rudel verlassener Hunde sucht in einem Geschäftseingang Schutz – ob vor den Raketen oder dem Eisregen, ist unklar. Der Boden ist mit Scherben übersät, die Fenster der Häuser sind entweder kaputt oder zugenagelt. Cherson wirkt wie eine Geisterstadt.
"Es ist reine Rache, dass sie vertrieben wurden"
Teile einer Rakete, die über das Café "Prostir" flogen, sind in den zwei obersten Stöcken eines Wohnhauses gelandet. Ein sechsjähriges Mädchen wurde vor dem Haus durch herabfallendes Glas verletzt. Auf dem Vorplatz werden die Scherben zusammengefegt, in den betroffenen Wohnungen setzen zwei Männer bereits Spanplatten anstelle der Scheiben ein.
Eine Hochschwangere im Morgenrock versichert der Nachbarin, dass sie in Ordnung sei. Auf dem Stockwerk machen sich alle Sorgen wegen der herrschenden Eisestemperaturen. "Ich muss jetzt einfach das andere Zimmer nutzen", sagt die bald werdende Mutter. "Alles ist gut, solange wir noch heizen können." Sie spricht aus, vor was alle Angst haben: Auch die Energieversorgung Chersons ist längst wieder Ziel der russischen Angreifer. "Es ist reine Rache, dass sie von hier vertrieben wurden", meint ein Mann.
An diesem Tag sterben auf einem Parkplatz zwei Männer wegen einschlagender Mörser, auch am Folgetag werden Todesopfer und Verletzte gemeldet.
Militärisch tut sich einiges
Vor einem Jahr war die Presse noch leicht nach Cherson gekommen. Jetzt braucht es dafür eine Genehmigung, und es wird einem ein Presseoffizier zur Seite gestellt. Ein Besuch am Ufer des Dnipro und der Antoniwka-Brücke ist mittlerweile absolut verboten.
Nicht nur, weil ein italienischer Journalist sich diesen Sommer über alle Warnungen hinweggesetzt hatte und sein Fixer von einem russischen Scharfschützen von der linken Flussseite aus erschossen wurde. Sondern auch, weil sich am Dnipro derzeit militärisch einiges tut. So sind ukrainische Einheiten über den Dnipro auf das russisch besetzte Südufer übergesetzt und haben einen Brückenkopf errichtet. Moskau dementiert dies.