Ukraine-Krieg

Militärexperte brutal: "Der Westen hat sich verschätzt"

Wie ist die Lage im Ukraine-Krieg? Was bewirken Rekruten und F-16? Was muss sich der Westen vorwerfen? Antworten von Militärexperte Wolfgang Richter.

Militärexperte brutal: "Der Westen hat sich verschätzt"
Die ukrainischen Truppen sind im Dauereinsatz und erschöpft.
REUTERS

Zweieinhalb Jahre Krieg in der Ukraine und kein Ende in Sicht. In ihrem Abwehrkrieg gegen Moskau legt Kiew zwar immer wieder militärische Husarenstücke hin – zuletzt mit der waghalsigen Kursk-Offensive. Doch das im Vergleich zum aggressiven Nachbarn kleine Land beklagt hohe Verluste. "20 Minuten" sprach mit Wolfgang Richter, Oberst a.D. der deutschen Bundeswehr, über den Stand der Dinge, begangene Fehler und Ausblicke.

Krieg in der Ukraine: Wie steht es um die Soldaten?

Das ukrainische Personal ist seit 30 Monaten im Einsatz und wurde kaum erneuert. Die Soldaten bestehen vor allem aus älteren Jahrgängen. "Sie sind erschöpft und haben Effektiv-Stärken, die mittlerweile weit unter 60 Prozent liegen. In einigen Einheiten soll sie sogar nur noch bei 25 Prozent liegen", sagt Militärexperte Wolfgang Richter. "Verluste konnten nicht vollständig ersetzt werden."

Der Bakschisch spielt halt immer noch eine Rolle
Wolfgang Richter

Seit dem Frühling hat man mit dem neuen Wehrpflichtgesetz mehr Soldaten rekrutiert. In welchem Umfang ist unklar. "Viele Männer entziehen sich weiter dem Wehrdienst. Präsident Selenski ist zwar gegen die Korruption in den militärischen Reihen vorgegangen, aber offenbar spielt der Bakschisch (Ausdruck für Schmiergeld, die Red.) halt immer noch eine Rolle, um sich freikaufen zu können", so Richter weiter. Hinzu kommen die wehrpflichtigen Männer, die nicht aus der EU und der Schweiz zurückkehren wollen. All das kennzeichnet die ukrainische Personallage.

Werden neue Rekruten etwas reißen können?

Richter geht davon aus, dass die ersten neuen Rekruten nach drei Monaten Ausbildung Ende September an die Front kommen werden. "Ob das dann ausreicht, wird man sehen. Doch ich befürchte, dass die Personalschwäche nach wie vor die Achillesferse der Ukrainer ist." Das heißt, selbst wenn der Westen weiter Kriegsmaterial wie Luftabwehrraketen und Artilleriemunition liefert – es fehlt auch mit neuen Rekruten wohl das Personal, das die Waffen bedient.

Lage: Von kritisch bis dramatisch?

Im Osten der Ukraine werden die russischen Angriffe laut dem Militärexperten stetig und unter hohen Verlusten weitergehen, mit einem Geländegewinn von durchschnittlich ein bis zwei Kilometern pro Tag. "Die Lage ist schon jetzt ernst. Doch sollte die ostukrainische Stadt Pokrowsk – sie liegt südwestlich von Kramatorsk und Slawjansk – tatsächlich fallen, dann wird die Lage für die Ukraine noch kritischer", so Richter.

Dann wird es für die Ukraine tatsächlich dramatisch
Wolfgang Richter

Nicht nur, weil über den wichtigen Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk viel Logistik läuft. Sondern auch, weil man dann aus russischer Sicht eine Position im Oblast Donezk eingenommen hätte, die sogar noch weiter westlich liegt als die beiden entscheidenden Städte Slawjansk und Kramatorsk, wo das Hauptquartier der ukrainischen Ostarmee liegt.

Eindrücke aus der ukrainisch besetzten Russen-Stadt Sudscha

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    Die ukrainischen Streitkräfte haben die russische Kleinstadt Sudscha in der Region Kursk bei ihrer überraschenden Gegenoffensive eingenommen.
    Die ukrainischen Streitkräfte haben die russische Kleinstadt Sudscha in der Region Kursk bei ihrer überraschenden Gegenoffensive eingenommen.
    YAN DOBRONOSOV / AFP / picturedesk.com

    "Sollten die Russen wirklich auch noch diese Stadt erreichen, dürfte es zum operativen Durchbruch kommen. Mit ausreichend Reserven werden die Russen dann in den Bewegungskrieg übergehen. Dann wird es für die Ukraine tatsächlich dramatisch, zumal die Russen dann aus der Flanke oder von hinten angreifen können."

    Was müssen die Ukrainer vermeiden?

    Dass es an einer Stelle zu einem Durchbruch kommt. "Um das zu verhindern, ist es nicht ausreichend, nur die Frontlinie selbst zu verstärken", sagt Richter. "Man muss dann entscheidende, kampfkräftige Reserven haben, die nicht aus der Luft so attackiert werden können." Der Luftabwehr komme weiter eine entscheidende Rolle zu.

    Daneben spielen Drohnen auf beiden Seiten eine entscheidende Rolle. "In allen Kriegen gleichen sich nach zwei Jahren die vermeintlichen Führungsvorteile an", so Richter. "Man passt sich an, es entsteht immer mehr Ausgleich in der Situation – und am Ende schlagen dann die Ressourcen durch."

    Wie sieht es mit den russischen Reserven aus?

    Russland zahlt mittlerweile umgerechnet über 20.000 Euro für Männer, die sich der Armee verpflichten. Daraus aber auf einen Notstand in den russischen Reserven zu schließen, sei falsch, so Richter. "Die Teilmobilisierung von 2022 stützte sich zunächst auf dienstpflichtige Reservisten. Mittlerweile sind aber weit mehr Männer rekrutiert worden, auch weil der finanzielle Anreiz gerade in den ärmeren Regionen Russlands hoch ist."

    Von einer Million Mann sind etwa 60 Prozent im Einsatz gegen die Ukraine
    Wolfgang Richter

    Die Gesamtstärke der russischen Armee dürfte mittlerweile weit über einer Million Mann liegen. "Davon sind etwa 60 Prozent im Einsatz gegen die Ukraine. Gleichzeitig wirken auch Kräfte von aussen in die Ukraine hinein, etwa Marinekräfte, Luftstreitkräfte und Raketenkräfte."

    Kurzum: "An Personalmangel leiden die Russen nicht, egal, wie hoch oder tief die Motivation ist." Der Militärexperte vermutet sogar, dass der Zustrom an Freiwilligen größer ist als jener aus der Teilmobilisierung. "Jedenfalls gibt es nicht dieses hohe Maß an Ablehnung, das wir vielleicht erwartet haben."

    Haben die gelieferten F16-Jets einen Effekt?

    "Ich glaube eigentlich nicht", sagt Richter. Derzeit seien unter zehn F16-Jets in der Ukraine, die mit Raketen wie Storm Shadow oder Scalp ausgerüstet werden könnten, beziehungsweise mit radargeleiteten Luft-Luft-Raketen für die Luftabwehr. Allerdings müsse auch das Gesamtsystem stimmen, also Radarüberwachung, Luftraumkontrolle und Fliegerleitung, was komplex und schwierig sei. Erschwerend komme die geringe Zahl an ausgebildeten Piloten hinzu.

    Von etwa 120 Jets dürften es heute unter 80 oder 70 Maschinen sein
    Wolfgang Richter

    Auf der anderen Seite habe Russland seine Luftangriffs-Taktik so modifiziert, dass es neben der ukrainischen Energieinfrastruktur auch bewusst ukrainische Flugplätze angreift.

    Die ukrainische Luftwaffe musste dazu erhebliche Verluste hinnehmen: Von einer ungefähren Ausgangsstärke von 120 Jets zu Beginn des Krieges dürften es heute deutlich unter 80 oder sogar 70 Maschinen sein. "Insofern ist im Moment die F16-Ausstattung wahrscheinlich eher dazu geeignet, diese Lücken zu füllen, die bei der ukrainischen Luftwaffe durch SU- und MiG29-Abschüsse entstanden sind", so Richter.

    Womit sind die F16-Jets konfrontiert?

    Holländer, Norweger, Dänen und Belgier wollen gut vier Staffeln dieser Kampfjets liefern, schätzt Richter. "Das sind etwa vier Dutzend. Und das ist gemessen an der Riesenzahl, die auf der russischen Seite verfügbar sind, doch sehr gering. Wir reden von über 1.200 russischen Kampfflugzeugen." Davon sei nur ein Teil in der Ukraine im Einsatz, weil Moskau es sich nicht leisten könne, andere Fronten völlig zu entblößen.

    Hat die Strategie der Waffenlieferung versagt?

    "Soweit würde ich nicht gehen", sagt Richter. Ziel sei es, die Ukraine als unabhängigen und souveränen Staat zu erhalten. "Deswegen muss man sie auch militärisch stützen – in einer effektiven Weise, in der ihre Verteidigungskraft gestärkt wird, ohne dass wir allmählich in einen gesamteuropäischen Krieg eskalieren. Dort den Mittelweg zu finden, ist umstritten und nicht so einfach."

    Gleichzeitig gibt Richter zu bedenken, dass die westliche Strategie von jeher eine Doppelstrategie aus Waffenlieferungen und Sanktionen gewesen sei – "und hier, glaube ich, hat sich der Westen tatsächlich ungeheuer verschätzt".

    Russischer Angriff auf Kinderklinik: Das ist der Held von Kiew

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      Nach dem Raketenangriff auf die Kinderklinik war Dr. Oleh Holubchenko einer der Ersten, die vor Ort anpackten.
      Nach dem Raketenangriff auf die Kinderklinik war Dr. Oleh Holubchenko einer der Ersten, die vor Ort anpackten.
      Ochmatdyt-Kinderspital

      Wo hat sich der Westen verschätzt?

      "Diese weltweiten Sanktionen haben einfach nicht funktioniert", sagt Richter. "Aus zwei Gründen. Erstens hat man die Resilienz der russischen Industrie völlig unterschätzt, obwohl man wusste, wie viele Tausende von Kampfpanzern, Artilleriegeschützen und so weiter die Russen in den Lagern haben. Die sind mittlerweile alle reaktiviert oder ausgeschlachtet worden, sodass man dann eben doch wieder kampfkräftige Einheiten hatte."

      Das hätte wir wissen können
      Wolfgang Richter

      Der andere Punkt: Die internationalen Sanktionen wirken vor allem deswegen nicht, weil der globale Süden nicht mitmacht. "Und das hätten wir wissen können. Der globale Süden hat kein Interesse, sich an die Seite der ehemaligen Kolonialmächte zu schlagen – muss man so drastisch ausdrücken –, um dann die Welt nochmal in zwei Lager zu spalten. Diese Länder sind selbstbewusst und mittlerweile selbst eigene Wirtschaftsmächte geworden", so Richter. "Ich denke insbesondere an die BRICS-Staaten, die sich stetig erweitern und eine eigene Politik betreiben. Sie beteiligen sich nicht an den Sanktionen gegen Russland wie der Westen das erwartet hatte." Natürlich habe es auch in Moskau grobe Fehleinschätzungen gegeben – angefangen mit der Idee, man könne die Ukraine widerstandslos einnehmen.

      Was ist Ihre Prognose für die Zukunft, Herr Richter?

      "Ich sehe das, was man in vielen Kriegen erlebt: hohe Ambitionen, viele Fehleinschätzungen und am Ende totale Ernüchterung und der Zwang, sich auf einen Kompromiss einzulassen", sagt Richter. Einen militärischen Sieg werde es für keine Seite geben. "Es braucht Verhandlungen – diese Erkenntnis beginnt im Westen nach zweieinhalb Jahren Krieg langsam um sich zu greifen."

      Waffenlieferungen aufrechterhalten und Friedensinitiativen pushen
      Wolfgang Richter

      Ein Ende des Krieges auf absehbare Zeit sieht Richter aber nicht. "Solange muss der Westen die Waffenlieferungen an die Ukraine aufrechterhalten, damit diese nicht zusammenbricht. Und gleichzeitig gilt es, Friedensinitiativen mit Kompromissen zu pushen, die letztlich für beide Seiten schmerzhaft sein werden."

      Auf den Punkt gebracht

      • Militärexperte Wolfgang Richter analysiert die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg und kritisiert die westliche Strategie, insbesondere die ineffektiven Sanktionen gegen Russland
      • Er betont, dass die Personalschwäche der Ukraine eine große Herausforderung bleibt und dass ein militärischer Sieg für keine Seite in Sicht ist, weshalb Verhandlungen und Kompromisse notwendig sind
      red, 20 Minuten
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