Ukraine

"Russland wird im Oktober militärisch verloren haben"

Wladimir Putins Truppen erleiden hohe Verluste und brennen sich durch ihr Waffenarsenal. Das kann nicht mehr lange gut gehen, sagt ein Militäranalyst.

Roman Palman
Ukrainische Soldaten feuern eine Luftabwehrkanone auf russische Bodenstellungen bei Bachmut (15. Jänner 2023).
Ukrainische Soldaten feuern eine Luftabwehrkanone auf russische Bodenstellungen bei Bachmut (15. Jänner 2023).
REUTERS

Von der russischen Winteroffensive ist nicht mehr viel übrig außer noch höhere Verluste als zuvor. Territoriale Zugewinne blieben gering, selbst der Kessel um Bachmut konnte nicht geschlossen werden. Jewgeni Prigoschin, der Chef der Söldnertruppe Wagner hatte am Montag noch vollmundig die Einnahme der Stadt "im rechtlichen Sinne" verkündet, nur um am Freitag einzugestehen, dass man die Stadt frühestens "in drei bis vier Wochen" zur Gänze erobern könne.

Bereits für die bisherigen Erfolge mussten unzählige seiner Söldner sterben und der blutige Häuserkampf setzt sich ungebrochen fort: "Ja, er wächst", sagte Prigoschin in einer Videobotschaft von einem Friedhof, wo Reihen um Reihen frischer Gräber für seine Truppe zu sehen sind. "Diejenigen, die kämpfen, sterben manchmal".

Abseits des von Wagner geführten Frontabschnitts ist die Lage für die reguläre russische Armee mindestens ebenso düster. Der als konservativ einzustufenden, auf visuellen Bestätigungen basierenden Zählung von ORYX (siehe Infobox unten) zufolge hat Wladimir Putins Militär bereits 10.000 schwere Kampffahrzeuge, Radaranlagen und Lufteinheiten verloren. Die Datenbank umfasst bereits 1.925 Panzer, 2.280 Schützenpanzer, 825 Spähpanzer, 381 selbstfahrende sowie 194 gezogene Artilleriesysteme und 190 Mehrfachraketenwerfer.

Solche Zahlen schneiden sogar bei den noch immer vorhandenen riesigen Sowjet-Beständen stark ins Fleisch. Eine solche Abnutzungsrate könne selbst Russland nicht lange durchhalten, schätzt der Militäranalyst Marcus Keupp von der ETH Zürich: "Das ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis ihnen die Reserven ausgehen."

"Ein massives Hinopfern von Reserven"

Das Vorankommen von Wladimir Putins Truppen an der Front bezeichnet er gegenüber dem ZDF – das Interview wurde auch auf YouTube veröffentlicht (siehe oben) – als "Desaster": "Das hat mit militärischer Logik eigentlich nichts mehr zu tun, sondern ist ein massives Hinopfern von Reserven – sowohl was Material als auch Menschen angeht – für minimale Fortschritte."

Dass jetzt auch schon Sowjet-Bestände geplündert und Uralt-Panzer wie den T-64 und T-55/T-54 flott gemacht werden, anstelle den bisher nur auf Militärparaden vorgeführten Super-Panzers T-14 "Armata" einzusetzen, spreche Bände. Der T-54 etwa wurde noch unter Josef Stalin direkt nach dem 2. Weltkrieg entwickelt. 

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    Im Februar 2023 hatte Putins Invasionsarmee noch eine "epische Panzerschlacht"...
    Im Februar 2023 hatte Putins Invasionsarmee noch eine "epische Panzerschlacht"...
    Evgeniy Maloletka / AP / picturedesk.com

    "Es findet hier wirklich eine große Entzauberung der russischen Armee statt", sagt der deutsche Militärökonom. Was das Kriegsgerät am Boden angehe, eskaliere Moskau "technologisch nach unten".

    "Bisher kämpft Sowjetmaterial gegen Sowjetmaterial, aber..."

    Auch auf ukrainischer Seite gibt es nichts zu beschönigen, auch für die Verteidiger sind die bisherigen Verluste horrend. ORYX zählt hier 3.153 Stück verlorenen schweren Geräts, darunter 480 Kampfpanzer und etwa 49 US-amerikanische M777A2-Haubitzen.

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      Ukrainische Verteidigungskräfte beim Abfeuern einer M777-Haubitze in der Region Charkiw Ende Juli 2022.
      Ukrainische Verteidigungskräfte beim Abfeuern einer M777-Haubitze in der Region Charkiw Ende Juli 2022.
      REUTERS

      Doch die Zeit spiele in den nächsten Monaten für die Ukrainer. Die jetzt eintreffenden modernen Waffen des Westens sollen jenen der Russen überlegen sein: "Sobald die ukrainische Frühjahrsoffensive losgehen wird – ich rechne mit Mitte April – wird man diesen Technologieeffekt dann deutlich sehen."

      "...das wird sich fundamental ändern."

      "Bisher kämpft in diesem Krieg Sowjetmaterial gegen Sowjetmaterial. Aber das wird sich fundamental ändern." Und das werde die Verlustrate auf russischer Seite neuerlich in die Höhe treiben. Auch die Stalin-Panzer sind immer noch gepanzerte Geschütze mit Motor – Verwendung an der Front wird sich sicher finden – allerdings können sie von ziemlich jeder verfügbaren modernen Abwehrwaffe einfach ausgeschalten werden.

      Wenn zuverlässiges, schweres Gerät zunehmend Mangelware werden sollte, dann schmelzen auch die Offensivfähigkeiten von Putins Truppen dahin. "Dann kommen sie bald an einen Punkt, an dem Russland nicht mehr in der Lage ist, überhaupt Operationen durchzuführen", analysiert Keupp im TV weiter. "Das Einzige, was sie dann noch tun können, ist, sich einzugraben."

      Keupp: Russland wird im Oktober verloren haben

      Das bringe die ukrainische Armee in die Position, Bedingungen für eine Kapitulation zu stellen: "Entweder ihr zieht jetzt ab, oder die Reste, die irgendwo rumstehen, werden vernichtet." Schon im Herbst könnte die Lage unausweichlich werden, sagt Keupp. Seine Prognose, die nun für Aufregung sorgt: "Russland wird den Krieg im Oktober militärisch verloren haben."

      Das heiße nicht, dass da jeder Mann und jeder Panzer verloren sei, sondern, dass die Lage aussichtslos werde. Dann blieben Wladimir Putin nur noch zwei Optionen: Rückzug, oder "völlig irrational" weiter Soldaten verheizen. Letzteres hält der Analyst aber für unwahrscheinlich, "denn bevor dieses Ergebnis eintritt, wird in Russland eine Destabilisierung des Machtsystems einsetzen". Damit meint Keupp nicht einen kompletten Kollaps des Staates, sondern eine Situation politischer Unruhen. 

      "Das kann für Putin sehr schnell gefährlich werden"

      "Je ungünstiger der Krieg läuft, desto mehr wird Putin innenpolitisch in Frage gestellt werden, auch gewalttätig". Das könnte den Kreml-Despoten zwingen, sein Militär ins Inland zu verlegen, um sein Regime zu sichern. 

      Dass jetzt private Söldnergruppen in Russland weiter aufrüsten – auch als Gegengewicht zur Gruppe Wagner – und Einzelpersonen selbst Kämpfer um sich scharen, sieht der Deutsche als ein erstes Symptom: "Diese Macht des Putin-Regimes beginnt ein bisschen zu bröckeln und es zeigen sich erste Risse in der Peripherie. Und immer wenn das passiert in der russischen Geschichte, dann kommen Leute auf die Idee, dass der Chef möglicherweise nicht mehr der Chef ist und beginnen dann die Messer zu wetzen. Das kann für Putin sehr schnell gefährlich werden."

      Über ORYX
      Die niederländische, von zwei ehemaligen "Bellingcat"-Mitarbeitern betriebene Gruppe "ORYX" bzw. "Oryxspioenkop" hat sich auf Verteidigungsanalysen spezialisiert. Seit Beginn der russischen Invasion werden anhand von Bildmaterial aus dem Kriegsgebiet Listen über die Verluste schweren Geräts – zerstört, beschädigt, zurückgelassen oder gekapert – beider Seiten erstellt und veröffentlicht.
      Fotos und Videos von Wracks aus dem Kriegsgebiet werden genau auf den Typ und die Herkunft des Geräts untersucht, dann einem Zeitpunkt und einem Ort zugeordnet. Die Datenbank wird regelmäßig auf mögliche Doubletten durchforstet und diese danach gelöscht. Weil nur visuell bestätigte Verluste auch gezählt werden, gilt das "ORYX"-Ergebnis als konservativ bzw. als Untergrenze. 
      Laufende Dokumentation ukrainischer Verluste
      Laufende Dokumentation russischer Verluste

      Alle aktuellen Entwicklungen zum Ukraine-Krieg auf einen Blick >

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        Eine vermutlich in der Ukraine gestartete Sowjet-Drohne ist am 26. März knapp 200 Kilometer südlich von Moskau abgestürzt und explodiert.
        Eine vermutlich in der Ukraine gestartete Sowjet-Drohne ist am 26. März knapp 200 Kilometer südlich von Moskau abgestürzt und explodiert.
        REUTERS
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          privat, iStock