Welt
Lampedusa-Politiker verzweifelt: "Ganze Insel vermüllt"
Die Lage auf der Insel Lampedusa entspannt sich nur allmählich. Der Vize-Bürgermeister von Lampedusa, Attilio Lucia (38), im Interview.
Es sind anstrengende Tage für den stellvertretenden Bürgermeister von Lampedusa, Attilio Lucia (38). In den vergangenen Tagen war er rund um die Uhr auf seiner Heimatinsel unterwegs, auf die im Moment ganz Europa schaut. Im Gespräch mit "20 Minuten" spricht er über die EU-Flüchtlingspolitik und die Schleuser.
„Herr Lucia, wie geht es Ihnen heute?“
Ich bin wirklich müde, aber auch nervös. Die Menschen aus Lampedusa sind müde. Dieses ganze Gewicht kann nicht nur auf unseren Schultern lasten. Seit vergangener Woche sind allein 12.000 Migranten auf der italienischen Insel angekommen. Deswegen ist es gut, dass Ursula von der Leyen und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hier waren. So konnten sie selbst erleben, wie es hier zugeht. Wir durchleben eine wirklich kritische Phase.
„Wie ist die Situation aktuell? Es kommen deutlich weniger Geflüchtete auf Lampedusa an als noch vor wenigen Tagen.“
Die Lage hat sich etwas entspannt. Derzeit sind "nur noch" 1.200 Migranten auf der Insel. Dennoch: Die Lage ist sehr kritisch. Unsere ganze Insel ist vermüllt. Es sind nicht nur die Boote, auf denen die Migranten gekommen sind, sondern auch Benzin, Matratzen, alles Mögliche. Viele Fischer können nicht rausfahren, weil ihre Schiffe von den Flüchtlingsbooten blockiert sind. Aktuell lautet der Plan, dass am Montagabend oder Dienstag früh alle aus dem Auffanglager gebracht werden. Wenn die Insel dann leer ist, beginnen die Aufräumarbeiten.
„Es könnte aber auch sein, dass die Anzahl an Geflüchteten wieder zunimmt…“
Das stimmt, das lässt sich ja schwer im Voraus sagen. Eines ist aber klar: Wenn hier jemand meint, Lampedusa wird das nächste Alcatraz, dann irrt er sich gewaltig. Wir versuchen nach wie vor, die Insel abzusichern. Ich hoffe wirklich, dass die Regierung die Situation jetzt in die Hand nimmt. Und auch, dass Europa aufwacht. Denn bisher sieht Europa gar nichts. Alle reden von "Empfangen", aber niemand tut etwas. (auf italienisch spricht man bei den Flüchtlingscamps von "centro d´accoglienza", übersetzt von einem Empfangszentrum. Anmerkung der Redaktion).
„Lampedusa muss als Symbol der gescheiterten EU-Flüchtlingspolitik herhalten. Was macht das mit der Insel?“
Lampedusa ist auf der ganzen Welt bekannt, denn wir haben einen der schönsten Strände auf der ganzen Welt, vor allem die Isola dei conigli ist sehr bekannt. Wir haben ein tolles Meer, aber gleichzeitig haben wir dieses Migrationsproblem, denn wir sind das Tor zu Europa. Psychologisch gesehen sind wir zerstört. Denn was nützt das alles, wenn gleichzeitig Tausende Migranten hier ankommen? Dann bleiben auch die Touristen aus. Es ist ein Drama.
„Was erwarten Sie von der Schweiz als Nicht-EU-Land?“
Die Schweiz kann da, glaube ich, nicht viel machen, das ist allein Aufgabe der EU. Die wissen ganz genau, wie sie sich dem stellen müssen, aber sie haben sich der Situation nie gestellt. Jetzt wäre der Moment dafür gekommen. Alle müssen jetzt ihre Stimme erheben und der EU sagen, dass sie verdammt nochmal ihre Arbeit machen soll.
„Am Sonntag hat Ministerpräsidentin Meloni angekündigt, dass 45 Millionen Euro Hilfsgelder an Lampedusa fließen sollen. Wie soll das Geld investiert werden?“
Mit dem Geld soll vor allem die Infrastruktur auf Lampedusa verbessert werden, es soll für "schöne Dinge" auf der Insel aufgewendet werden. Wenn jemand denkt, dass wir damit das nächste Flüchtlingscamp errichten – das können sie vergessen. Es ist eine Fantasie. Wir müssen in erster Linie die Schleuser bekämpfen. Das sind sehr gefährliche Leute. Das ist ein Business mit Menschenfleisch.
„Was sagen sie dazu, wie die Bürger von Lampedusa die Geflüchteten empfangen?“
Eines möchte ich wirklich betonen: Wir haben der Welt gezeigt, was accoglienza, Empfangen, eigentlich bedeutet. Wir haben das immer so gemacht. Ich erinnere mich, als kleiner Junge haben wir die Geflüchteten auch in unsere Häuser gelassen, ihnen Essen und Trinken gegeben, sie konnten duschen. Das ist richtiges Empfangen. Ich habe gar nichts gegen die Migranten, die eine bessere Zukunft wollen, sondern gegen die Schleuser. Heute ist es nur Business – "schwarzes Gold". Ich war immer gegen dieses System. Warum wird dieser Fluss nicht gestoppt, wer soll sich kümmern? Es sterben Kinder, erst in der vergangenen Woche kam ein fünf Monate altes Baby ums Leben.