Elementarpädagogin warnt!

"Ich musste Kind erklären, was eine Morddrohung ist" 

Die ehemalige Elementarpädagogin Judith Hintermeier schlägt Alarm, denn die psychische Entwicklung der Kinder sei derzeit mehr als besorgniserregend.

Daniela Hamberger
"Ich musste Kind erklären, was eine Morddrohung ist"
Die ehemalige Elementarpädagogin schlägt Alarm und hat dem Tabuthema Kinderentwicklung den Kampf angesagt.
Lukas Beck

Etwas stimmt nicht und das schon lange. Judith Hintermeier war selbst zwölf Jahre lang als Elementarpädagogin "an der Front". Ihre Erlebnisse aus dieser Zeit regten sie an, selbst aktiv zu werden. Denn immer öfter sind bei Kindern Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten erkennbar, doch "niemand will hinsehen" und die Zukunft der Kinder steht damit unter keinem guten Stern. 

Um auf das Tabuthema aufmerksam zu machen, hat die jetzige Gewerkschafterin ihre Erlebnisse und Bedenken in dem Buch "Brennpunkt Kinderzimmer. Die gefährliche Entwicklung der Kleinsten" zusammengefasst.

Veränderungen sind erschreckend

In die Kindergärten würden immer mehr Mädchen und Buben kommen, die zu einem hohen Anteil verhaltensauffällig und entwicklungsverzögert sind. Sie hätten zuhause nicht mehr gelernt, Regeln einzuhalten, Grenzen zu akzeptieren, sich alleine zu beschäftigen, etwas Angefangenes zu Ende zu führen, einander zu unterstützen oder sich um andere zu kümmern.

Wenn die Kinder mit all ihren Auffälligkeiten in der Volksschule ankommen, ist kaum noch etwas zu machen.
Judith Hintermeier
ehem. Elementarpädagogin, Gewerkschafterin bei younion

Nicht nur Eltern Schuld

Die Auslöser für das erschreckende Verhalten vieler Kinder sitze tief. Es sei eine Mischung aus überforderten Eltern, einer Politik, die ihre Prioritäten falsch setzt und fehlendem pädagogischen und sonderpädagogischem Personal. "Vor ein bis zwei Jahrzehnten hätten all diese Kinder als 'schwer erziehbar' gegolten", sagt Hintermeier. Sie warnt davor, dass diese Kinder künftig nicht fähig sein würden, einem geregelten Arbeitsalltag nachzukommen.

Psychische Probleme am Vormarsch

Sogar die Kleinsten leiden immer öfter an Schlafstörungen, Depressionen, Aufmerksamkeitsproblemen, Essstörungen, verzögerte Sprachentwicklung, Suchtverhalten, echtem Autismus und vielem mehr. Die Probleme, mit denen die Kinder in den Kindergarten kommen, sind oft kaum lösbar. Noch schlimmer sei es dann, wenn diese Kinder dann mit ihrem Auffälligkeiten in die Volksschule kommen. Denn dann wäre es schon fast zu spät.

Schockierende Beispiele aus der Praxis

Im Buch erzählen Hintermeier und einige ihrer Kolleginnen aus dem Berufsalltag. Beispielsweise gab es einen kleinen Jungen, der täglich in die Zimmerpflanze urinierte. Eigentlich hätte er das seinem Alter entsprechend nicht mehr tun dürfen. "Hier fehlt oft die Erziehung der Eltern und wir müssen einspringen. Nach einer Menge weiterer Windeln und nasser Hosen war auch das geschafft". Aber es finden sich auch weitaus erschreckendere Erlebnisse in dem Buch.

"Nachdem ich einem Jungen erklärt hatte, dass Sessel nicht dafür da sind, durch die Luft geschossen zu werden, und einem anderen, was eine Morddrohung ist und wie sie bei anderen ankommt, begann ich mich zu fragen, ob hier wirklich die Kinder das eigentliche Problem waren".

Mit fachlichen Experten werden Lösungswege für Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen und ihre Eltern besprochen.
Mit fachlichen Experten werden Lösungswege für Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen und ihre Eltern besprochen.
Martin Anger

Ein weiteres Beispiel, das zeigen soll, wie wenig Zeit man sich für Kinder nimmt, ist Elias. "Er kann nicht ruhig sitzen, ist schnell abgelenkt und weiß nicht, wie er sich beim Essen zu benehmen hat. Über diese Auffälligkeiten müssen wir die Eltern natürlich in Kenntnis setzen." Im Normalfall würden Gespräche mit Experten stattfinden, um einen gemeinsamen Weg mit den Eltern zu finden, um den Jungen zu unterstützen.

"Doch in Elias’ Fall konnte es den Eltern nicht schnell genug gehen. Sie engagierten umgehend einen privaten Psychologen. Und am Ende des Tages konnten sie ihren Sohn als Autisten und sich selbst weiterhin als Super-Mum und Super-Dad bezeichnen".  Aus pädagogischer Sicht der falsche Weg.

Handy als Babysitter

Übermäßiger Medienkonsum wirke sich auf mehreren Ebenen nachweislich negativ auf die frühkindliche Entwicklung aus. Für gestresste Eltern, die oft viel zu früh wieder arbeiten gehen müssen, ein Segen. "Man erspart sich den zeitaufwändigen Ausflug in den Park, man muss keine dreckige Wäsche waschen". Für die Kleinen ist die ständige Bespaßung mit Handy oder Tablet aber alles andere als förderlich. Dass sie dadurch verlernen, mit Langeweile umzugehen und ihre Kreativität auszuleben, ist nur ein Teil der negativen Auswirkungen.

Kindern fehlt es mittlerweile oft an Konzentration und einem Verständnis von Regeln.
Kindern fehlt es mittlerweile oft an Konzentration und einem Verständnis von Regeln.
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Gesellschaftlicher Niedergang ist vorprogrammiert

Hintermeier möchte mit den Praxisberichten die Augen öffnen "Die heutige Generation Kindergarten trägt schon jetzt den Keim des gesellschaftlichen Niedergangs in sich". Kinder würden neben der besten Bildung auch Halt und Struktur benötigen. Dies sei wichtiger als "knallharte Klientelpolitik", es müsse endlich hingesehen werden.

Schweigen brechen und handeln

Hintermeier ist mittlerweile als Expertin bei der Gewerkschaft younion tätig. In dieser Position sei sie vor Anfeindungen besser geschützt als die "Kolleginnen und Kollegen an der Front" und könne sich so um die Probleme und Missstände kümmern und Lösungsansätze entwickeln. Um das Schweigen zu brechen, soll auch ihr Anfang März erschienenes Buch beitragen. Sie fordert darin unter anderem auch die Politik auf, endlich zu handeln und die Pädagogen zu unterstützen.

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    In Lerncafés erhalten Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien kostenlose Unterstützung beim Lernen.
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