Seismologen und Geologen schlagen Alarm: Die Wahrscheinlichkeit für ein verheerendes Erdbeben in der türkischen Metropole Istanbul steigt stetig. Nach jahrelangen Messungen entlang der Nordanatolischen Verwerfung sind sich Experten einig, dass die 16-Millionen-Einwohner-Stadt in den kommenden Jahren von einem schweren Beben heimgesucht werden könnte.
"Die Frage ist nicht, ob, sondern wann es passieren wird", erklärte der renommierte Erdbebenexperte Naci Görür zur dpa, "dabei werden hunderttausende Menschen umkommen". Görür betonte, dass etwa 100.000 Gebäude in Istanbul stark einsturzgefährdet seien und drängte die Behörden, sofort Maßnahmen zur Verstärkung kritischer Infrastruktur zu ergreifen.
Die Nordanatolische Verwerfung, eine der aktivsten Störungszonen der Welt, hat in den vergangenen Jahrzehnten bereits mehrere katastrophale Erdbeben verursacht, darunter das verheerende Beben von Izmir im Jahr 1999 mit 17.000 Toten. Seither hätten sich die seismischen Spannungen kontinuierlich in Richtung Westen verlagert – genau auf Istanbul zu.
Besonders besorgniserregend ist die Bausubstanz vieler Gebäude in der türkischen Metropole. Istanbul würde Schwierigkeiten haben, einem größeren Erdbeben standzuhalten, räumte der türkische Umweltminister Murat Kurum ein, so turkishminute.com.
Von den 7,5 Millionen Wohn- und Geschäftsgebäuden der Stadt seien 1,5 Millionen stark gefährdet, wobei etwa 600.000 Gebäude in Gefahr sind, sofort einzustürzen.
Geologische Untersuchungen haben die gefährdetsten Gebiete Istanbuls identifiziert. Şener Üsümezoy von der Universität Istanbul erklärte gegenüber turkiyetoday.com: "Die schlimmsten Bodenbedingungen beginnen in Bakırköy und erstrecken sich entlang der Küste des Marmara-Meeres".
Diese "problematische Formation" setze sich von Topkapı über Yenikapı fort, umfasse Zeytinburnu und Ataköy und erreiche "die Küste nahe Büyükçekmece."
Üsümezoy warnte besonders vor den Folgen eines Bebens der Stärke 6,0 oder höher. Im Falle eines Erdbebens könnten Silivri und Kumburgaz erhebliche Bodenverschiebungen erleben. Neben den unmittelbaren Gefahren durch einstürzende Gebäude warnen Experten auch vor weiteren (Folge-)Risiken.
Die Istanbuler Chemie-Ingenieure wiesen in ihrem Bericht "Gefahren durch Chemikalien nach einem Erdbeben in Istanbul" auf die Risiken von Sekundärkatastrophen hin – wie Brände, Explosionen, Gaslecks, Überschwemmungen, Epidemien und Umweltverschmutzung.
Wie der Klimawandel Erdbeben verstärken könnte
Das türkische Kandilli-Observatorium hat die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens mit einer Stärke von mehr als 7 bis zum Jahr 2030 auf 60 Prozent geschätzt. Internationale Organisationen haben bereits ihre Unterstützung zugesagt. UNO und Europäische Union stellen Mittel für Frühwarnsysteme und Katastrophenschutzübungen bereit.