Ukraine
Genozid-Fantasie der Russen ist "Zeichen der Schwäche"
Schweizer Militärexperten sehen die jüngst in russischen Medien veröffentlichten Fantasien einer Auslöschung der Ukraine als "Zeichen der Schwäche".
"Was soll Russland mit der Ukraine machen?" – die Antwort auf diese Frage brachte der Kreml-nahe Politologe Timofei Sergeitsev am Sonntag in erschütternden Worten zu Papier. Vordergründig als "Meinungsbeitrag" deklariert, lieferte die staatliche Nachrichtenagentur "Ria Novosti" die öffentliche Plattform für seine fast 15.000 Zeichen lange Allmachtsfantasie, die sich wie ein Aufruf zum Genozid an der ukrainischen Bevölkerung liest – "Heute" berichtete.
Sergeitsev wiederholt die von Wladimir Putin ausgegebene Narrative von der "Entnazifizierung" der Ukraine ad nauseam. Die Elite des Landes müsse liquidiert werden, da eine Umerziehung nicht möglich sei, so seine Behauptung. Allen anderen wünscht er lange Haftstrafen oder Zwangsarbeit herbei. Den Rest der Zivilbevölkerung beschreibt der Russe als "Mitläufer" und "passive Nazis", weil sie sich nicht gegen ihre bösen Führer auflehnen würde. Für sie sei dieser Krieg die "gerechte Strafe".
Insgesamt sei der "Ukronazismus" eine ähnlich große Bedrohung für den Frieden und Russland wie der deutsche Nazismus unter Hitler. Der Name "Ukraine" dürfe nach der "vollständigen Entnazifizierung" daher nicht mehr für das Staatsgebilde gebraucht werden, so der Autor, der damit die Auslöschung des Landes fordert.
"Das ist ein offener Aufruf zum Genozid", donnerte der Direktor des Zentrums für polnisch-russische Dialog, Ernest Wyciszkiewicz, in einer kritischen Reaktion auf den Artikel.
"Lässt nichts Gutes erahnen"
Dieser würde explizit Kriegsverbrechen nach Innen gerechtfertigt, erklärt Niklas Masuhr, Sicherheitsforscher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Dass die russische Doktrin einen Fokus auf Abschreckung und Exempel bei der Aufstandsbekämpfung lege, zeige sich auch in Butscha.
Solche Verbrechen seien "strukturell Teil der russischen Kriegsführung", sagt Masuhr weiter. Seine Einschätzung ist düster: "In Kombination mit dem Säuberungsnarrativ lässt das natürlich nichts Gutes erahnen."
Mediale Kriegsführung
Der Artikel könne so gelesen werden, dass unter dem Programm der "Entnazifizierung" nebst dem Sturz der Regierung auch die "Säuberung" sämtlicher pro-ukrainischen Kräfte gefordert werde, sagt Michel Scheidegger, Forscher der Militärakademie an der ETH Zürich (Milak). "Meiner Meinung nach geht es hier aber viel eher um mediale Kriegsführung."
Bilder aus Butscha, Mariupol und Charkiw hätten der Welt die Brutalisierung der russischen Kriegsführung nach dem Scheitern des Handstreichs auf Kiew deutlich vor Augen geführt. "Dies hat dem Image Russlands zusätzlich geschadet und innerhalb Russland hat die staatlich orchestrierte Propaganda darauf mit einer Radikalisierung ihrer zynischen, verzerrten Rhetorik reagiert."
Zeichen der Schwäche
Der Artikel sei daher als Teil einer aus dem Kreml gelenkten russischen Kriegspropaganda zu verstehen, welche auf pseudo-historischen Bezügen basiere, die Realitäten verzerre und dadurch letztendlich Gewalt legitimieren wolle, so Scheidegger weiter.
Gleichzeitig sei diese Rhetorik auch als Zeichen der Schwäche Russlands zu werten. Weil die ukrainische Bevölkerung den Einmarsch nicht wehrlos hinnimmt, wird sie nun von der Kreml-Propaganda zu "Kollaborateuren des Nazi-Regimes in Kiew" oder "passiven Komplizen" erklärt.
Spaltung der Ukraine "unrealistisch"
Nebst der erschreckenden Rhetorik über "Säuberung" und "Umerziehung" fordere Sergeitsev längerfristig eine Zweiteilung des ukrainischen Staatsgebiets in einen pro-russischen Staat im Osten und einen von Russland militärisch besetzten Rumpfstaat im Westen.
"Eine solche Aufteilung wäre nur bei einer vollständigen militärischen Besetzung des Landes oder einer plötzlichen Implosion der ukrainischen Streitkräfte denkbar", sagt Scheidegger. "Beide Optionen halte ich bei der momentanen Kriegslage für unrealistisch."
Dass es sich bei Sergeitsevs Text um einen ungewollten Ausreißer handelt, ist jedenfalls unwahrscheinlich. Die Zensoren des Medien-Wachhunds Roskomnadsor haben sämtliche Nachrichten-Unternehmen Russlands im Würgegriff. Nichts wird veröffentlicht, was auch nur annähernd gegen die Regierungslinie verstoßen könnte.
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