"Uns läuft die Zeit davon"

Fund in den Anden macht Wissenschaftler fassungslos

In den südamerikanischen Anden haben Forscher eine erschütternde Entwicklung dokumentieren können: "Wir dachten, es sei Jahrzehnte entfernt".

Roman Palman
Fund in den Anden macht Wissenschaftler fassungslos
Blick auf den Exploradores-Gletscher am Rande des Nördlichen Patagonischen Eisfeldes im Süden Chiles.
IMAGO/Depositphotos

Nicht nur in den österreichischen Alpen schmelzen die Gletscher im Rekordtempo dahin. In den südamerikanischen Anden konnte nun ein Wissenschaftler-Team rund um Andrew Gorin von der University of California, Berkeley, nachweisen, dass die Eismassen schon jetzt auf ihr geringstes Ausmaß in diesem Erdzeitalter zusammengeschrumpft sind.

Dazu wurden an den Enden von vier Gletschern der Felsboden auf die Radioisotope Beryllium-10 und Kohlenstoff-14 untersucht. Beide entstehen durch Einwirkung von kosmischer Strahlung. Bei den meisten der 20 entnommenen Proben zeigte sich nur eine geringe Konzentration – die untersuchten Stellen konnten also noch nicht lange eisfrei sein.

Minimum unterschritten

Der Paleoklima-Experte selbst beschreibt seine nun im Fachmagazin "Science" veröffentlichten Ergebnisse als "ernüchternd". Zumindest die untersuchten Andengletscher sind damit kleiner als zu ihrem bisherigen Minimum während des Holozäns. Dieses, unser gegenwärtiges Erdzeitalter, begann vor rund 11.700 Jahren nach dem Ende der letzten Kaltzeit.

Rekonstruktion und Messdaten der globalen Oberflächentemperatur in drei Zeitabschnitten des Holozän.
Rekonstruktion und Messdaten der globalen Oberflächentemperatur in drei Zeitabschnitten des Holozän.
Gulev et al. (2021) / doi.org/10.1017/9781009157896.004

In den ersten Jahrtausenden dieser Warmzeit waren die Temperaturen deutlich erhöht, so dass viele eiszeitlichen Gletscher und Eisschilde massiv zusammenschmolzen. Danach sanken die weltweiten Temperaturen langsam ab, die Gletscher stießen wieder vor – bis der menschenverursachte Klimawandel diesen Kurs in kürzester Zeit wieder umkehrte.

Bilder: Pasterze am Großglockner schmilzt rasant davon

1/11
Gehe zur Galerie
    So kennt kein lebender Mensch mehr die Pasterze. Die Farblithographie entstand um <strong>1880</strong> und zeigt den riesigen Gletscher und das Glocknerhaus.
    So kennt kein lebender Mensch mehr die Pasterze. Die Farblithographie entstand um 1880 und zeigt den riesigen Gletscher und das Glocknerhaus.
    akg-images / picturedesk.com

    Langzeit-Archiv

    Gletscher sind für den Wissenschaftler ein wertvolles Klimaarchiv: "Die Größe der Gletscher spiegelt das Klima wider, in dem sie existieren. Dreht man den Thermostat hoch, schrumpfen die Gletscher, dreht man ihn runter, wachsen sie." Einzelne Hitzewellen oder Starkregen-Ereignisse lassen sie quasi kalt.

    Dass das frühere Eis-Minimum bereits an mehreren Orten unterschritten wurde, ist für Gorin Grund zu großer Sorge: "Wir sind davon ausgegangen, dass dieses Ergebnis noch Jahrzehnte entfernt liegt, vielleicht wenn wir uns unseren IPCC-Grenzwerten einer Erwärmung von 1,5 und 2,0 Grad Celsius nähern."

    Die Ergebnisse aus den Anden würden nun erstmals zeigen, dass sich das Klima einer ganzen Region bereits von den Bedingungen, die die Entwicklung unserer modernen Zivilisation begünstigt haben, entfernt hat.

    An Klima angepasst

    "Das ist wichtig, weil wir unsere globale, vernetzte Gesellschaft für das Klima des Holozäns gebaut haben. Wir bewirtschaften Land, das heute ackerbaulich nutzbar ist, Städte existieren entlang der Küstenlinien früherer Jahrhunderte, und viele Bevölkerungszentren sind auf Trinkwasserquellen angewiesen, die vom Klima des Holozäns abhängen", beschreibt Gorin die Auswirkungen.

    Diese Folgen könnten mit neuen Anpassungsmaßnahmen im Einzelfall sicherlich ausgeglichen werden, sagt er, "aber nichts davon wird kostenlos sein, und nichts davon wird einfach sein."

    "Sobald Menschen involviert sind, werden die Dinge chaotisch, und es scheint wahrscheinlich, dass diejenigen, die am wenigsten solche Veränderungen bezahlen können, am meisten betroffen sein werden."

    Bilder: Schmelzende Pasterze gibt 6.000 Jahre alte Zirbe frei

    1/7
    Gehe zur Galerie
      Aus dem Großglockner-Gletscher Pasterze haben Mitarbeiter des Nationalparks und der Universität Salzburg 2015 einen 6000 Jahre alten Zirbenstamm geborgen.
      Aus dem Großglockner-Gletscher Pasterze haben Mitarbeiter des Nationalparks und der Universität Salzburg 2015 einen 6000 Jahre alten Zirbenstamm geborgen.
      Nationalpark Hohe Tauern

      "Kanarienvogel in der Kohlemine"

      Auf der Nordhalbkugel haben die Gletscher ihr Holozän-Minimum noch nicht unterschritten, deshalb werden beim Rückzug von Pasterze und Co. immer wieder erstaunliche Funde wie etwa Jahrtausende alte Zirbenstämme gemacht.

      Der US-Forscher sieht seine Studienergebnisse aus Südamerika jedoch als sprichwörtlichen "Kanarienvogel in der Kohlemine", als Warnsignal, für die weltweite Gletscherschmelze.

      "Unser Klima verändert sich schneller als erwartet, und es müssen entscheidende Maßnahmen ergriffen werden, um den Erwärmungstrend auf der ganzen Welt abzumildern", betont Co-Autor Emilio Mateo in einem Kommentar auf "LinkedIn". Dort warnt auch Gorin: "Der Menschheit läuft die Zeit davon, um zu handeln."

      Auf den Punkt gebracht

      • Die Gletscher in den südamerikanischen Anden schmelzen schneller als erwartet, was Wissenschaftler alarmiert
      • Untersuchungen zeigen, dass die Eismassen bereits auf das geringste Niveau seit 11.700 Jahren geschrumpft sind, was auf die beschleunigte Erderwärmung zurückzuführen ist
      • Dies hat weitreichende Auswirkungen auf die globale Gesellschaft und erfordert dringende Maßnahmen, um den Klimawandel einzudämmen
      rcp
      Akt.