Ukraine massiv unter Druck

Erste Experten glauben an unvermeidbare Kapitulation

Im Abwehrkampf gegen Russland gehen der Ukraine zunehmend Mann und Munition aus. Ein Experte klärt nun auf. 

20 Minuten
Erste Experten glauben an unvermeidbare Kapitulation
Der ukrainische Präsident zeichnete erst jüngst Soldaten an der Frontlinie bei Saporischschja aus. Die Moral der ukrainischen Streitkräfte schwindet.
via REUTERS

Die ukrainischen Truppen sind im Kampf gegen den russischen Angreifer in die Defensive geraten. Ihnen gehen Munition, Waffen und Männer aus. Was das heißt, zeigt sich derzeit in der Ostukraine, wo das russische Militär neben kleineren Geländegewinnen vor allem bei Awdijiwka weiter vorgestoßen ist. Sie sollen noch eineinhalb Kilometer vom Stadtzentrum entfernt sein.

Kyrylo Budanow vom ukrainischen Militärnachrichtendienst HUR sprach unlängst Klartext: Der Mangel an Soldaten sei spürbar. Es sei "schwer vorstellbar, die Kriegsanstrengungen fortzusetzen und die Kapitulation ohne zusätzliche Mobilisierungswellen zu vermeiden".

Wie prekär ist die Lage der Ukraine nach zwei Jahren Krieg? Ann Guenter vom "Heute"-Partnermedium "20 Minuten" hat bei Ukraine- und Sicherheitsexperte André Härtel* nachgefragt.

Herr Härtel. Liegt nach zwei Jahren Krieg eine Kapitulation in der Luft?

Die meisten Experten gehen davon aus, dass die Ukrainer in der Lage sind, die Front mit einer vernünftigen Defensivstrategie in der aktuellen Form zu halten. Und dass das größere Problem darin liegt, die Ukraine vor diesem Zermürbungskrieg gegen die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur zu schützen. Ich bin da skeptischer.

Was macht Sie skeptisch?

Unsere aktuellen Informationen von der Front sind insgesamt nicht besonders gut. Nicht nur, weil die Soldaten an der langen Front jetzt mit immer weniger Artilleriemunition auskommen müssen. Auch der psychologische Faktor spielt eine große Rolle – und hier spricht derzeit ebenfalls vieles gegen die Ukraine.

Was meinen Sie mit dem "psychologischen Faktor"?

Die Gegenoffensive ist gescheitert. In den letzten Monaten hat die westliche Unterstützung nachgelassen – auch wenn das jetzt wieder etwas drehen könnte. Der Nahostkonflikt ist dazugekommen und Russland, das mit dem Krieg besser klarkommt als gedacht, arbeitet enger mit Nordkorea, dem Iran und China zusammen. Es sind diese Dinge, die bei den Soldaten ankommen und auf die Moral drücken. Gleichzeitig richten sich die Russen militärisch auf einem immer höheren Niveau ein. Das lässt für mich schon die Frage aufkommen, ob wir nicht böse Überraschungen wie einen russischen Frontdurchbruch erleben könnten.

Wie spielt der jüngste Konflikt zwischen Selenski und Saluschni da hinein?

In dem – meiner Meinung nach überbewerteten – Konflikt geht es um die Frage, ob man endgültig zu einer Defensivtaktik übergehen soll. Selenski will nicht, dass im Westen der Eindruck entsteht, die Ukraine könne sich nur noch auf das Halten der derzeitigen Frontlinie konzentrieren und habe keine Chance auf weitere Offensiven mehr.

Was ist problematisch an einer reinen Defensivtaktik?

Dies würde eine schwierige Botschaft an den Westen senden, nämlich: "Unsere Kräfte sind zunehmend erschöpft und auch zusätzliche Waffenlieferungen werden kaum etwas daran ändern, dass Russland sich an der Landfront strategisch klar im Vorteil befindet."

Wir müssen uns immer weiter vor Augen halten, dass die Waffenlieferungen des Westens kein automatisches Patt in diesem sehr asymmetrischen Konflikt bedeuten. Das war bisher faktisch vor allem deshalb der Fall, weil die Ukrainer – zusätzlich zu den westlichen Waffenlieferungen – mit deutlich mehr Motivation und auch taktischem Geschick als die Russen gekämpft haben. Durch Ermüdung auf ukrainischer und Lerneffekte auf russischer Seite ist dieser zeitweise Vorteil nicht mehr vorhanden. Das macht die Lieferungen natürlich umso notwendiger, und Selenski will jede Botschaft vermeiden, die den Westen entmutigen könnte.

Ganz plakativ: Was würden Sie Kiew raten?

Ich halte es für die richtige Militärtaktik, an der Frontlinie auf Defensive zu setzen, aber über die Front hinaus die Russen infrastrukturell möglichst zu schwächen. Man muss vernünftig bleiben: Für die Ukrainer ist es mittelfristig ein Erfolg, wenn sie die Lage, wie sie jetzt ist, erst einmal stabilisieren können und keine weiteren Gebiete verlieren. Ansonsten haben die Ukrainer vieles richtig gemacht.

Zum Beispiel?

Die Ukraine hat die Luft genutzt, die sie in diesem Krieg noch hatte, um die Dinge, die ihnen die EU aufgetragen hatte, intern abzuarbeiten. Man hat es selbst ermöglicht, dass die Beitrittsgespräche eröffnet wurden. Auch machen das internationale Werben der Ukrainer um einen Friedensplan und ihre Bemühungen um Sicherheitsgarantien viel Sinn.

*André Härtel ist Leiter des Brüsseler Büros der Stiftung Wissenschaft und Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind die ukrainische Innen- und Aussenpolitik sowie die europäische Sicherheitsordnung.

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