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Darum konnte Israel den Hamas-Terror nicht stoppen

Der brutale Terrorangriff der Hamas hat die israelischen Verteidigungskräfte kalt erwischt. Die Welt sich fragt, wie das passieren konnte.

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Israels Iron Dome fängt Raketen aus dem Gazastreifen ab.
Israels Iron Dome fängt Raketen aus dem Gazastreifen ab.
REUTERS

Die israelische Armee IDF wird von vielen als eine der besten Armeen der Welt betrachtet. Die Geheimdienste Shin Bet, Aman und Mossad sind aufgrund ihrer Effizienz gefürchtet. Umso unverständlicher ist es für viele Beobachter und Beobachterinnen, wie die palästinensische Hamas mit ihrem Terror Israel so unvorbereitet treffen konnte. Was sind die Gründe?

Wilde Verschwörungstheorien

Bereits kursieren auf Social Media diverse Verschwörungstheorien. So wird etwa verbreitet, dass der Angriff eine sogenannte False-Flag-Operation war, die von Israel bewusst herbeigeführt worden ist. Die Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu habe so eine Situation schaffen wollen, um in den Gazastreifen einzumarschieren oder um von der umstrittenen Justizreform abzulenken.

Gegen diese Theorie gibt es gute Argumente: Bisher forderte der Hamas-Terror über 1.200 Todesopfer in Israel. Es ist schwer vorstellbar, dass die Regierung für ein Täuschungsmanöver einen derart hohen Blutzoll in Kauf genommen hätte. Auch den gefährlichen Imageschaden für die IDF hätte Israel kaum riskiert. Und schließlich dürfte die Regierungskoalition durch den Angriff selbst unter Druck geraten, da sie in letzter Konsequenz die Verantwortung für das Versagen der Sicherheitskräfte trägt, sagt Michel Wyss, wissenschaftlicher Assistent an der Militärakademie der ETH Zürich.

Andere wittern hinter dem Angriff einen Plan, um den Westen von seiner Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland abzubringen. Das würde aber eine Beteiligung Russlands am Angriff voraussetzen.

Doch dafür gibt es keinen Hinweis. So sagte der in Aserbaidschan lebende Nahostexperte Ruslan Suleymanov zu DW.com, er bezweifelte, dass die russische Regierung über den Plan der islamistischen Terrororganisation informiert war.

Weshalb Israel den Angriff nicht stoppen konnte

Viel wahrscheinlicher als die genannten Verschwörungstheorien ist, dass das anfängliche Versagen der israelischen Sicherheitskräfte auf eine Verknüpfung politischer, geheimdienstlicher und militärischer Faktoren zurückzuführen ist. Ein Überblick:

Politische Faktoren

Die Siedlungspolitik der Regierung führte zu massiven Spannungen im Westjordanland zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern, weshalb die IDF einen großen Teil ihrer Streitkräfte aus dem Raum Gaza dorthin verlegen musste.
- Auch die Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudiarabien trugen dazu bei, dass die Regierung der Bedrohung durch die Hamas weniger Beachtung schenkte.
- Zudem hat die umstrittene Justizreform der Regierung Israel tief gespalten. Während der monatelangen Proteste verweigerten einzelne Reservisten sogar ihren Dienst in der Armee.
- Israel ging weiter davon aus, dass man der Hamas den Wind aus den Segeln nehmen und den Gazastreifen stabilisieren könne, indem man Tausenden Menschen von dort ermöglichte, in Israel oder im Westjordanland zu arbeiten und gutes Geld nach Hause zu bringen.

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    Am Samstagmorgen haben palästinensische Terroristen im Gazastreifen überraschend Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert.
    Am Samstagmorgen haben palästinensische Terroristen im Gazastreifen überraschend Hunderte Raketen auf Israel abgefeuert.
    REUTERS
    Geheimdienstliche Faktoren

    - Den israelischen Geheimdiensten war das militärische Potenzial der Hamas wohlbekannt. Dennoch schaffte es die Terrororganisation, sie davon zu überzeugen, dass man nicht auf Krieg aus sei. So beteiligte sich die Hamas nicht an den bewaffneten Auseinandersetzungen des Islamischen Dschihad und Israel im Mai 2023.
    - Zudem verstärkten abgehörte Telefonate zwischen Hamas-Führern den Eindruck, dass diese keinen neuen Krieg wollten, so kurz nach dem verlustreichen Israel-Gaza-Konflikt vom Mai 2021. Ob das eine bewusste Finte der Hamas war, ist derzeit unklar.
    - Es gelang den Geheimdiensten auch nicht, Informationen aus dem innersten Machtzirkel der Hamas zu erhalten. Nur dieser hatte Kenntnis von den Angriffsplänen. Die oberste Priorität hatte offenbar das Vermeiden von Informationslecks. Auch die Hunderte von Kämpfern, die über Monate für den Angriff gedrillt wurden, wussten nicht, worauf sie sich genau vorbereiteten.
    - Laut der "New York Times" sollen Geheimdienstmitarbeiter noch letzte Woche davon ausgegangen sein, dass ein Angriff der libanesischen Hisbollah auf den Norden Israels die Hauptgefahr darstelle.
    - Unklar ist, ob Israel konkrete Warnungen in den Wind geschlagen hat. Laut Medienberichten soll der ägyptische Geheimdienstchef Premierminister Netanjahu zehn Tage vor dem Angriff gewarnt haben, dass "etwas Ungewöhnliches, eine schreckliche Operation" im Bereich des Gazastreifens zu erwarten sei. Netanjahu wies die Berichte als "absolut falsch" zurück.

    Militärische Faktoren

    - Die Militärpräsenz entlang der Grenze zum Gazastreifen war ungenügend, da viele Soldatinnen und Soldaten, wie oben erwähnt, ins Westjordanland verlegt worden waren.
    - Laut der "New York Times" entdeckte der israelische Geheimdienst kurz vor dem Angriff einen Anstieg der Aktivitäten in einigen der militanten Netzwerke im Gazastreifen. Eine Warnung wurde an die Bewacher der Grenze ausgegeben, die aber entweder nicht ankam oder nicht erkannt wurde.
    - Die IDF verließ sich zu sehr auf die Grenzsicherung mit Kameras, Sensoren und automatischen Maschinengewehren. Das war ein Trugschluss, denn die Hamas konnte diese mithilfe von Drohnenangriffen relativ einfach zerstören. Durch die rasche Vernichtung der Kommunikationsinfrastruktur hatten die Bewacher zudem keinen Zugriff auf Videobilder oder Sensordaten von der Grenze. So war lange unklar, an wie vielen Orten die Grenze durchbrochen war.
    - Die für den Raum Gaza verantwortlichen Kommandanten der IDF waren alle in der gleichen Militärbasis untergebracht. Als diese von der Hamas eingenommen worden war, war an eine koordinierte Reaktion nicht mehr zu denken.
    - Diese Faktoren erschwerten es der Militärführung in Tel Aviv, zu erkennen, dass die Schwere der Angriffe den sofortigen Einsatz der Luftwaffe erforderte. So soll es Stunden gedauert haben, bis die ersten Kampfjets und Helikopter in die Kämpfe eingriffen.

    Die israelischen Sicherheitsdienste bestreiten das Ausmaß ihres anfänglichen Versagens nicht. Aber sie sagen, dass dies erst nach dem Ende des Krieges untersucht werden kann. "Wir werden das zu Ende bringen", sagte Oberstleutnant Richard Hecht, ein Militärsprecher am Samstag. "Aber, sie wissen, dass dies untersucht werden wird."