Wien
Belauscht und notiert: Die Poesie des Alltags in der U6
Der Wiener Andreas Rainer (41) ist leidenschaftlicher U6-Fahrer. Er hört genau hin, schreibt alles mit. Nun machte er aus den Beobachtungen ein Buch.
"Ein Mann mit Maske in der Hand betritt eine Apotheke in Wien – der Apotheker sagt: Sie wissen eh, die Maske in der Hand schützt wie das Kondom in der Hosentasche", so der jüngste Post am Mittwoch auf der Instagram Seite @wieneralltagspoeten, die der Wiener Andreas Rainer betreibt. Seit über vier Jahren sammelt Andreas Rainer in seiner Heimatstadt Geschichten, Dialoge und besondere Momente. Am liebsten sammelt er auf der U-Bahn-Linie U6. Über die Linie hat er unlängst ein Buch veröffentlicht. Die Geschichten die er aus der U-Bahn mitbringt, sind so schön, skurril oder rührig, dass sie so nur das Leben selbst schreiben konnte. Die Poesie des Alltags fiel dem Autor auf: Andreas Rainer musste nur noch mitschreiben.
In seinem Buch gibt es außerdem "Gürtel Sightseeing Tipps" – für Touristen ist das eher nicht gedacht, sondern für Wiener, die die dunkle und stinkende Seite Wiens mindestens genauso lieben, wie das manierliche, glatte Gesicht Wiens im ersten Bezirk.
Was ist mit der U6 anders als mit anderen Linien?
Andreas Rainer: Die Linienführung. Es ist die einzige Linie, die nicht den ersten Bezirk streift. Die U6 zeigt das echte Wien, abseits des Bildes von "Wien Tourist" als wahnsinnig altmodisches Wien, wo alle mit der Kutsche umeinander fahren. Die U6 zeigt die wirkliche Stadt, die wirklichen Leute in Wien.
Was meinen Sie, ist Ihr Buch eine Bereicherung eher für Wiener oder für Touristen?
Das kommt darauf an, wofür man sich interessiert. Mein Buch zeigt Sachen und Orte, die man als Nichtwiener gar nicht kennt. Wer sich für Geschichten und für das Flair interessiert, dafür, wie Wien so drauf ist, für den ist es interessant. Ich versuche, diese besondere Wiener Atmosphäre einzufangen. Die Wiener freuen sich, dass jemand von etwas schreibt, an das sie sich erinnern können, was sie wiedererkennen.
Herr Rainer, auf knapp achtzig Buchseiten setzen Sie sich selbst sechs Mal auf Fotos in Szene. Wie kam es dazu?
Zuerst war da ja mein Instagram Kanal "Wiener Alltagspoeten". Danach kam das Buch. Auf Instagram habe ich genau das Gegenteil gemacht von dem, was man soll: Keine Bilder von mir, nicht schön bunt, nicht top ausgeleuchtet. Dann kam das Buch und mein Verleger wollte einen neuen Ansatz. Ich habe die Geschichten selbst erlebt und aufgeschrieben, ich sollte auf den Titel und ins Buch. Ich weiß, das wirkt ein bisschen eitel.
In den meisten Kapiteln Ihres Buches kommen Begegnungen mit lächelnden, schönen Frauen vor. Eine Erfahrung, die nicht jedermanns Alltag ist. Erklären Sie uns das?
Die Geschichten im Buch sind oft viele Jahre her. Das war in den 2000er Jahren, meiner Studentenzeit. Die Begegnungen, von denen ich schreibe, lagen oft nur in einem Blick, ohne Worte. Es gibt diese Momente, wenn sich Mann und Frau begegnen, zwei Sekunden, ein Prickeln. Diese Szene im Buch, wo mich eine Frau anspricht, während ich völlig besoffen im Chelsea alte Lieder mit gröle, die ist so einzigartig und lange her, dass sie mir in Erinnerung geblieben ist und ich sie ins Buch aufgenommen habe.
Würden Sie sich selbst als Schriftsteller oder als Chronisten bezeichnen?
Bevor ich Schriftsteller bin, muss noch was kommen. So bezeichne ich mich dann nach meinem ersten Roman.
Leben Sie von Ihrem Beruf als Geschichten sammelnder U6-Fahrer?
Nein. Aber wahrscheinlich könnte ich, über Instagram.
168.000 Follower auf dem Instagram Kanal "Wiener Alltagspoeten". Kann man da Werbung platzieren?
Ja, das kann man. Ich bekomme viele Anfragen. Ich platziere auch Werbung, ganz dezent. Ich lebe aber nicht davon. Ich habe nicht den Anspruch, das brutal zu kommerzialisieren. Da bin ich doch zu sehr Poet: Das Geld muss auch reinkommen, aber nicht um jeden Preis.
Obwohl. Würde ich meinen Job hassen, zum Beispiel als Stewardess oder als Zahnarzt , dann würde ich es hardcore kommerzialisieren. Dann würde ich dringend aufhören wollen, zu arbeiten. Denn ich habe Flugangst und zwei linke Hände. Als Zahnarzt würde ich mich ständig verbohren. Und ich wäre dann als Zahnarzt die Person, zu der keiner hinwill.
Ist das Leben als Künstler in Wien leistbar?
Ich bin ja kein Vollzeitkünstler. Ich habe noch einen Job nebenher. Ich arbeite als Texter, unter anderem für "Vier Pfoten".
Wer sind Ihre Leser?
Meinem Kanal folgen viele Nichtwiener. Fünfzig Prozent sind außerhalb von Wien. Es sind sehr viele Leute aus Deutschland. Von denen bekomme ich viele Zuschriften und Likes. Auch wenn wir Wiener uns ständig über die Deutschen lustig machen, letztlich ist mir die Anerkennung aus Deutschland viel wert. Heimlich sehnen wir Österreicher uns nach Lob aus Deutschland.
Wird es eine Fortsetzung geben?
Ja, ich möchte weitere Bücher schreiben. Den "Alltagspoet fährt U4" wird es aber nicht geben.
"Der Wiener Alltagspoet fährt U6. Mit Gürtel-Sightseeing-Tipps" von Andreas Rainer
ISBN 978-3-903715-20-2
Verlag: Story.one – the library of life: Preis € 14,50