Politik

Antisemitische Vorfälle haben sich verdoppelt

Corona-Demos, Verschwörungstheorien und der Israel-Konflikt haben dazu geführt, dass die Zahl der antisemitischen Vorfälle regelrecht explodiert ist.

Leo Stempfl
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Oft auf Corona-Demos gesehen: ein gelber Davidsstern mit der Aufschrift "ungeimpft".
Oft auf Corona-Demos gesehen: ein gelber Davidsstern mit der Aufschrift "ungeimpft".
Christophe Gateau / dpa / picturedesk.com

Im ersten Halbjahr 2021 gab es so viele antisemitische Vorfälle wie noch nie. "Auch wenn die Zahlen auf den ersten Blick katastrophal wirken, spiegeln sie die Realität wider. Wir haben es hier mit einer Verdoppelung der gemeldeten Fälle zu tun", so Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zum "Standard".

Die Antisemitismus-Meldestelle erfasste in nur sechs Monaten 562 Vorfälle, darunter 58 Sachbeschädigungen, elf Bedrohungen und acht physische Angriffe. Mehr als die Hälfte (331) entfällt auf verletzendes Verhalten. Dieses kann in Beschimpfungen, Äußerungen oder Botschaften liegen, die entweder von Angesicht zu Angesicht oder via sozialen Netzwerken an bestimmte Personen oder Organisationen gerichtet werden.

Eine Auswahl der antisemitischen Vorfälle
28. Mai: Ein aufgrund seiner Kippa als jüdisch erkennbarer Mann ist im 1. Wiener Gemeindebezirk unterwegs, als mehrere männliche Jugendliche mit Electroscootern sehr knapp an ihm vorbeifahren und ihn mit “Scheiss Jude!” sowie “Allahu Akhbar!” anschreien.
22. Mai: Nach dem Abendgebet werden als jüdisch erkennbare Gemeindemitglieder im 1. Wiener Gemeindebezirk von einer Gruppe männlicher Jugendlicher mit “Allahu Akhbar!” angeschrien.
14. Mai: eine aufgrund ihrer Kleidung als jüdisch erkennbare Familie wird in einem Park im 2. Wiener Gemeindebezirk mit Steinen beworfen.

Corona-Demos und BDS

Laut IKG hatten über 25 Prozent der Vorfälle einen Bezug zum Coronavirus. Dabei handelte es sich nicht vorrangig um Verschwörungstheorien im Internet, sondern insbesondere auch um verhetzendes Verhalten im Zuge der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Teilweise führte die Route durch die jüdisch geprägten Viertel des zweiten Bezirks, dabei kam es auch zu "Sieg Heil"-Rufen und Hitlergrüßen, antisemitischen Plakaten und gelben "Judensternen", auf denen "ungeimpft" zu lesen war.

Doch auch aus dem linken Spektrum gab es vermehrt Vorfälle, die sich oft – aber nicht nur – gegen den "Verbrecherstaat" Israel, die Siedlungspolitik und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung richteten. BDS, "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen", nennt sich diese Haltung, die innerhalb der Linken stets zu heftigen Spannungen führt.

Von den 562 Meldungen stammten 244 aus dem rechten Spektrum, 147 aus dem linken und 71 aus dem muslimischen Umfeld.

Die Dunkelziffer soll weit höher liegen, weil naturgemäß nicht alle Vorfälle gemeldet werden. Nennenswert ist auch, dass sich zwei körperliche Angriffe gegen Personen richteten, die nicht jüdisch waren, aber für Juden gehalten wurden. So etwa im Fall einer Judaistik-Studentin, die in der U3 attackiert wurde – mehr dazu hier.

Polizisten werden nachgeschult

"Derartiges Verhalten hat in Österreich keinen Platz, ist nicht tolerierbar und wird mit allen Mitteln des Rechtsstaates verfolgt", reagiert Innenminister Karl Nehammer in einer Aussendung. "Der Kampf gegen jede Form von Antisemitismus ist Teil einer gewachsenen österreichischen Identität und der historischen Verantwortung unseres Landes. Die Corona Pandemie hat zu einer Radikalisierung an den Rändern unserer Gesellschaft geführt."

Aktive Polizisten werden deswegen per e-Learning im Bereich "Hate Crime" nachgeschult, angehende müssen ab Herbst das Ausbildungsmodul "Antisemitismus" absolvieren.

Auch Verfassungsministerin Karoline Edtstadler reagierte schon vorab auf die erwartete gestiegene Zahl an antisemitischen Vorfällen: "Die Corona-Pandemie hat Verschwörungstheorien und Antisemitismus befeuert", stellt sie im "Profil" fest. "Während der Pandemie demonstrierten auch Antisemiten und Herbert Kickl spielte dabei eine verabscheuungswürdige Rolle."

Schande

"Dass wir als Gesellschaft in Österreich immer noch derart mit Antisemitismus zu kämpfen haben, ist eine Schande", sagt NEOS-Sprecherin für Inneres, Stephanie Krisper. "Wir müssen uns der Verantwortung der Geschichte und gegenüber Jüdinnen und Juden bewusst sein. Offensichtlich hat auch die Corona-Krise und dazugehörige Verschwörungstheorien dem Antisemitismus wieder neuen Aufwind gegeben. Wir dürfen als Gesellschaft und als Politik nicht tatenlos zusehen und uns nur in Betroffenheit üben."

Sabine Schatz, SPÖ-Sprecherin für Erinnerungskultur, sagt : "Es ist erschreckend, wie stark antisemitische Übergriffe in den letzten Monaten zugenommen haben. Ich bin entsetzt über den offen zur Schau getragenen Antisemitismus auf Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen und auf Anti-Israel-Demos, sowie die rasche Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien. Diese gefährlichen Entwicklungen dürfen in unserer Gesellschaft nicht geduldet werden!"