Ukraine
Anschlag auf Ukraine-AKW würde ganz Europa verstrahlen
Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, einen Anschlag auf das AKW Saporischschja zu planen. Ein Atomexperte ist höchst beunruhigt.
Die Provokationen von Moskau und Kiew im Zusammenhang mit dem AKW Saporischschja sorgen auch bei den Menschen außerhalb des Kriegsgebiets für Angst. Die beiden Länder werfen sich gegenseitig vor, einen Anschlag auf das wichtige AKW zu planen. Während die Ukraine Russland vorwirft, Sprengsätze beim AKW platziert zu haben, sagt Russland, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski dies nur behaupte, um von einem eigenen geplanten Anschlag mit "Präzisionswaffen mit großer Reichweite" sowie Drohnen abzulenken. Unabhängig prüfen lässt sich keine der Behauptungen (siehe Box).
Inspektoren wollen AKW auf Sprengstoff untersuchen
Angesichts wachsender Sorgen um die Sicherheitslage im russisch besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja hat die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) erweiterten Zugang zu der Anlage gefordert. Es sei nötig, die "Abwesenheit von Minen oder Sprengstoff" auf dem Gebiet zu bestätigen, erklärte IAEA-Chef Rafael Grossi am Mittwoch. Bei Begutachtungen mehrerer Teilbereiche des AKW hätten IAEA-Mitarbeiter in den vergangenen Wochen zwar "keinerlei sichtbare Hinweise auf Minen oder Sprengstoff" festgestellt, erläuterte Grossi. Allerdings hätten die Inspektoren zu verschiedenen Bereichen keinen Zugang erhalten.
Die Risiken sind derweil hoch. Das Atomkraftwerk in Saporischschja ist das größte in ganz Europa. Mit sechs Reaktorblöcken, die derzeit abgeschaltet sind, ist es auch das leistungsfähigste. Ein Anschlag hätte fatale Konsequenzen. Stephen Herzog, Nuklearexperte am Center for Security Studies der ETH Zürich, erklärt im Interview, ob wir uns nun für eine Atom-Katastrophe wappnen müssen.
Stephen Herzog, was läuft dort in Saporischschja ab?
Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, beim AKW Saporischschja Waffen wie Landminen, Drohnen, Sprengsätze und Raketen in Stellung gebracht zu haben. Wer die Wahrheit sagt, weiß man nicht. Was aber sicher ist: Das AKW in Saporischschja würde einen solchen Angriff nicht aushalten, dafür wurde es nicht ausgestattet.
Haben AKW keinen Schutz vor äußeren Einflüssen?
Doch, das radioaktive Material wird im Falle einer Reaktorschmelze durch dicke Schutzwände aus Stahlbeton zurückgehalten. Diese würden jedoch höchstens kleinen Flugobjekten standhalten. Aber definitiv keinem Beschuss durch Panzer und Raketen oder anderen Explosionen.
Was passiert, wenn die Schutzwände kaputtgehen?
Radioaktives Material würde in die Atmosphäre gelangen und potenziell zu einem zweiten oder noch schlimmeren Tschernobyl führen. Wir reden hier vom potenziell größten Umweltdesaster der Welt. Wichtig zu beachten ist, dass die nuklearen Folgen sehr abhängig von Wind und Wetter sind. Bei einem so großen AKW könnte sich die Radioaktivität theoretisch über weite Teile Europas und darüber hinaus verbreiten.
Was wären die Folgen?
Direkt betroffene Orte wären für über 100 Jahre unbewohnbar. Über größere Distanzen dürfte die radioaktive Strahlung nicht stark genug sein, um die Menschen zu schädigen, also um etwa Krebs zu verursachen. In weiten Gebieten wären aber Felder und Weideland davon betroffen. Das wäre für die Landwirtschaft verheerend. Noch heute sind etwa die Böden in Teilen Polens wegen der Katastrophe von Tschernobyl 1986 radioaktiv belastet. [Anm. der Redaktion: Auch in Österreich sind die Folgen von Tschernobyl noch spürbar.]
Was würde das für Österreich bedeuten?
Ein "so weitreichendes Szenario bleibt hoffentlich unwahrscheinlich", so der Experte. Im schlimmsten Fall würden aber wohl auch Landwirtschaft und Tierhaltung in Österreich betroffen sein. "Das würde logischerweise zu immensen ökonomischen Folgen führen", heißt es.
Eine direkte radioaktive Belastung für Menschen in Österreich sei vermutlich auch in den schlimmsten Fällen unwahrscheinlich, weswegen auch Jodtabletten wahrscheinlich nicht nötig seien. Es gebe in einem solchen Fall aber Vorgaben der Regierung und der Ärzteschaft.
Würde sich Russland mit einer Zerstörung des AKW Saporischschja nicht ins eigene Knie schießen?
Absolut. Auf welche Gebiete sich nukleare Vorfälle auswirken, ist abhängig von der Windrichtung. Es wäre extrem risikoreich für die Russen und sie würden die eigenen Bewohner in Gefahr bringen.
Ist das also alles nur ein Machtspiel?
Möglich. Es geht um die Kontrolle des AKW und somit auch über die Stromversorgung. Aktuell sind diese Drohungen vielleicht nur ein Mittel, um das Kraftwerk nutzlos zu machen. Wenn das so weitergeht, bleibt das AKW dort einfach außer Betrieb und erfüllt damit wohl auch seinen militärischen Zweck für die Russen.
Was werden andere Länder aufgrund dieser Situation tun?
Ob etwas passiert oder nicht: Eine solche drohende Umweltkatastrophe dürfte einen Einfluss auf die Atompolitik haben. Kein anderes Land will sich in eine solche Situation begeben. Das könnte dazu führen, dass einzelne Staaten vermehrt nach Energiealternativen suchen oder sogar ihre Atomkraftwerke abschalten werden.