Ukraine

AKW-Arbeiter berichten von Folter und Entführung

Die ukrainischen Beschäftigten im Kernkraftwerk Saporischschja sollen durch die russischen Truppen terrorisiert und misshandelt worden sein.

20 Minuten
Das Gebiet rund um das Kernkraftwerk in Saporischschja steht seit Wochen unter russischer Kontrolle.
Das Gebiet rund um das Kernkraftwerk in Saporischschja steht seit Wochen unter russischer Kontrolle.
EPN / Action Press/Sipa / picturedesk.com

Serhij Schwez stand am Küchenfenster seiner Wohnung in der russisch-besetzten südostukrainischen Stadt Enerhodar und sah, wie bewaffnete Männer unten auf der Straße anmarschierten. Der Wachmann im Atomkraftwerk Saporischschja und ehemalige Soldat im ukrainischen Militär wusste, dass sie es auf ihn abgesehen hatten, ihn entweder töten oder entführen und dann foltern würden. Er dachte kurze Zeit daran, eine Abschiedsnotiz für seine Familie zu schreiben, die sich im Ausland in Sicherheit befand. Aber stattdessen zündete er eine Zigarette an und griff zu seiner Waffe.

Sechs russische Soldaten brachen seine Tür ein und eröffneten das Feuer, Schwez erwiderte es. Er wurde mehrmals getroffen, im Magen, an der Hand, am Oberschenkel und Ohr. Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er, wie der Kommandeur der Gruppe seinen Männern befahl, das Feuer einzustellen.

Einschüchterungen und Misshandlungen

Schwez überlebte, trotz enormen Blutverlustes, aber der Schrecken des Angriffes im Mai hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Wie er berichten auch andere Arbeiter im Kernkraftwerk Saporischschja von ihren Erfahrungen, ihrer Furcht, von den russischen Besetzern des Atommeilers und ihres Heimatortes Enerhodar entführt und gefoltert zu werden. Nach ukrainischen Angaben haben die Invasoren stetig versucht, die Beschäftigten durch Schläge und andere Misshandlungen einzuschüchtern, um sie dazu zu bringen, das Kraftwerk am Laufen zu halten – oder auch, um jene zu bestrafen, die ihre Unterstützung für Kiew ausgedrückt hatten.

Vor Beginn der russischen Invasion am 24. Februar war das Leben für die AKW-Mitarbeiter gut gewesen, sie lebten mit ihren Familien in finanziell stabilen Verhältnissen. Das Atomkraftwerk – mit seinen sechs Reaktoren das größte in Europa – bot Arbeitsplätze für 11.000 Menschen, machte Enerhodar mit seinen 53.000 Einwohnern vor dem Krieg zu einer der wohlhabendsten Städte in der Region. Aber als die Russen den Ort und das sechs Kilometer davon entfernte Kraftwerk in den frühen Wochen der Invasion besetzten, verwandelte sich das Leben in einen Alptraum.

1/8
Gehe zur Galerie
    Die russische Nationalgarde patrouilliert vor dem von Russland kontrollierten Kernkraftwerk Saporischschja in der Nähe der Stadt Enerhodar in der Ukraine.
    Die russische Nationalgarde patrouilliert vor dem von Russland kontrollierten Kernkraftwerk Saporischschja in der Nähe der Stadt Enerhodar in der Ukraine.
    EPN / Action Press/Sipa / picturedesk.com

    Russische Truppen verschleppten den Betriebschef

    Ungefähr 4.000 AKW-Arbeiter flohen. Jene, die blieben, erzählen von ihrer Bedrohung durch Entführungen und Folter. Untermauert wurden diese Darstellungen durch einen Vorfall am vergangenen Freitag: Da verschleppten russische Kräfte den Betriebschef der Anlage, Ihor Muraschow, auf dessen Heimweg von der Arbeit. Am Montag ließen sie ihn frei – nachdem er gezwungen worden war, vor laufender Kamera falsche Erklärungen abzugeben, wie Petro Kotin, Leiter des staatseigenen ukrainischen Atomunternehmens Enerhoatom, sagt.

    "Ich würde das als mentale Folter bezeichnen", sagte er der Nachrichtenagentur AP. "Er musste erklären, dass der Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja von ukrainischen Kräften unternommen wurde und dass er ein ukrainischer Spion ist ... in Kontakt mit den ukrainischen Spezialkräften."

    "Mit Handschellen und einer Tüte über dem Kopf" festgehalten

    Enerhodars ins Exil gezwungener Bürgermeister Dmytro Orlow, der nach der Freilassung mit Muraschow gesprochen hat, sagt, dass der Entführte nach eigenen Angaben zwei Tage lang in einem Keller festgehalten wurde, "mit Handschellen und einer Tüte über dem Kopf".

    Insgesamt seien mehr als 1.000 Menschen, darunter AKW-Beschäftigte, aus Enerhodar entführt worden, schätzt Orlow, der nach Saporischschja – der nächstgelegenen Stadt unter ukrainischer Kontrolle – flüchtete, nachdem er sich geweigert hatte, mit den Russen zu kooperieren. Kotin vermutet, dass 100 bis 200 Menschen weiter festgehalten würden.

    Orlow zufolge begannen die Entführungen am 19. März mit der seines Stellvertreters Iwan Samoidjuk. Er sei bis heute nicht wieder aufgetaucht. "Meistens schnappten sie sich Leute mit einer proukrainischen Haltung, die aktiv in die Widerstandsbewegung involviert waren", sagt der Bürgermeister. Er wirft den Russen vor, Entführte an verschiedenen Orten in Enerhodar gefoltert zu haben, unter anderem auch in der Polizeistation der Stadt, in Kellern und sogar im Atomkraftwerk. "Schreckliche Dinge spielen sich da ab. Leute, die es schafften, da herauszukommen, sagen, dass es Folter mit Stromschlägen, Schlägen, Vergewaltigungen, Schüssen gab ... Manche haben nicht überlebt."

    1/50
    Gehe zur Galerie
      <strong>21.11.2024: Für 4,90 Euro völlig ungenießbares Schulessen serviert</strong>. Die Debatte um Mittagessen und Jause in heimischen Schulen und Kindergärten kocht hoch. <a data-li-document-ref="120073491" href="https://www.heute.at/s/fuer-490-euro-voellig-ungeniessbares-schulessen-serviert-120073491">"Es schmeckt nicht", ärgert sich nicht nur Wienerin Daniela D.</a>
      21.11.2024: Für 4,90 Euro völlig ungenießbares Schulessen serviert. Die Debatte um Mittagessen und Jause in heimischen Schulen und Kindergärten kocht hoch. "Es schmeckt nicht", ärgert sich nicht nur Wienerin Daniela D.
      privat, iStock