Ukraine

22 Milliarden & Applaus – das bringt Selenski USA-Reise

Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn reist der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski ins Ausland. Die USA wollen Patriot-Abwehrsysteme liefern

20 Minuten
Präsident Wolodomir Selenski hält eine kämpferische Rede vor dem US-Kongress.
Präsident Wolodomir Selenski hält eine kämpferische Rede vor dem US-Kongress.
MANDEL NGAN / AFP / picturedesk.com

Es ist nicht weniger als ein Heldenempfang im US-Kongress – für das Oberhaupt eines anderen Landes. Zwei Minuten und 19 Sekunden feiern Abgeordnete beider Parlamentskammern den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski am Mittwoch (Ortszeit) mit Applaus vor einer Rede, die Geschichte schreiben dürfte. Es geht um Widerstand, Freiheit und den militärischen Sieg über Russland. "Trotz aller Widrigkeiten und Untergangsszenarien ist die Ukraine nicht gefallen", ruft Selenski den Abgeordneten bei seiner ersten Auslandsreise in Kriegszeiten unter immer wieder aufbrandendem Jubel entgegen. "Die russische Tyrannei hat die Kontrolle über uns verloren". Er macht klar, dass er mehr Waffen braucht, während sich eine neue Phase im bald einjährigen Ukraine-Krieg abzeichnet.

Der Besuch Selenskis bei seinem wichtigsten Unterstützer kurz vor Weihnachten kommt zu einer entscheidenden Zeit. Mit der Aufrüstung beider Seiten könnte es im bald einjährigen Krieg für die ukrainischen Streitkräfte schwieriger werden, im Osten ihres Landes weiter gegen die russischen Soldaten vorzurücken. Diplomaten sagten zuletzt aber, sie erwarteten eine ukrainische Offensive im Winter.

Kiew – das Bollwerk gegen Russland

Selenski, der kürzlich vom "Time"-Magazin zur "Person of the Year" gewählt wurde, steht dabei symbolisch für den Kampf der Ukrainer um ihre Freiheit. In den vergangenen zehn Monaten schafften die Streitkräfte es, die zuvor übermächtig erscheinende russische Armee nach ihrem Einmarsch zunächst bei Kiew und dann im Osten des Landes zurückzuschlagen. Ohne die Amerikaner aber, das betont Selenski im Weißen Haus neben Präsident Biden, wäre dies unmöglich gewesen.

Doch vor dem Kongress macht Selenski klar, dass es sich bei den knapp 22 Milliarden Dollar an US-Militärhilfe nicht um Almosen handle. Kiew sei das Bollwerk gegen Russland – es sei nur eine Frage der Zeit, bis Russland auch Verbündete der USA angreife, warnte der Ukrainer. Waffen, Training und Geheimdienstinformationen stärkten Selenskis Kämpfer auf allen Ebenen. Sie sind weiter angewiesen auf die US-Hilfe. Vor allem deshalb ist der ukrainische Präsident erstmals seit Kriegsbeginn ins Ausland geflogen.

In US-Regierungsflugzeug angereist

Selenski wird das Zitat zugeschrieben, er "brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit". Das war zu Beginn des Krieges, als die USA ihn aus Kiew in Sicherheit bringen wollten, der 44-Jährige sich aber weigerte und den Widerstand antrieb. Zehn Monate später wird er dafür auch in den USA als Held gefeiert – und für die Visite in Washington nahm er dann tatsächlich eine US-Regierungsmaschine.

Im Licht der veränderten Machtverhältnisse nach den Zwischenwahlen ist seine Rede vor den Abgeordneten besonders wichtig. Dort werden die Republikaner bald mehr Macht haben – auch ihre Unterstützung braucht der ehemalige Schauspieler in den kommenden Monaten und vielleicht Jahren. Bei der Rede am Mittwochabend, in der Selenski das Schicksal der Ukrainer historisch immer wieder mit dem der Amerikaner vergleicht, scheinen die Ränge der Republikaner dabei etwas leerer als die der Demokraten.

Von seinem Washington-Besuch aber wird Selenski mit großen amerikanischen Zusagen zurückkommen: Die USA wollen als Teil eines neuen Militärhilfe-Pakets in Höhe von 1,85 Milliarden US-Dollar Patriot-Luftabwehrsysteme in die Ukraine schicken. Das könnte auch den Druck auf Staaten wie Deutschland erhöhen, bei den Waffenlieferungen aufzustocken.

Zudem gibt sich Biden, der Selenski zur Begrüßung noch väterlich die Schulter getätschelt hatte, als felsenfester Verbündeter ohne Vorbedingungen: "Sie werden niemals alleine dastehen», sicherte er zu. "Das amerikanische Volk hat Sie bei jedem Schritt begleitet, und wir werden an Ihrer Seite bleiben, so lange es nötig ist."

Putin wolle um jeden Preis gewinnen

Aus russischer Sicht verschärft sich die Lage im Krieg durch die Lieferung der Patriots an die Ukraine deutlich. Schon lange sieht Kremlchef Wladimir Putin seine Invasion in die Ukraine auch als einen Krieg mit dem Westen und die Waffensysteme der Nato-Staaten. Der "kollektive Westen" habe es auf eine Vernichtung Russlands abgesehen und nutze die Ukraine als Instrument, behauptete er mehrfach.

Wegen der Patriot-Lieferung befürchtet Moskau, dass die Angriffe von ukrainischer Seite auf russisches Staatsgebiet durch diese Waffen mit höherer Reichweite noch einmal zunehmen. Russland hatte den USA zuletzt wiederholt vorgeworfen, inzwischen selbst Kriegspartei zu sein. Auch die Patriots würden deshalb nun zu «legitimen» Zielen für die russischen Streitkräfte.

Putin hatte nur kurz vor Selenskis Auftritten in Washington bei einer großen Sitzung im Verteidigungsministerium am Mittwoch mit Nachdruck erklärt, dass er den Krieg um jeden Preis gewinnen will. Dazu soll die Armee besser ausgestattet und die Zahl der Soldaten erhöht werden. Dafür gebe es keine finanziellen Grenzen, betonte er. Moskau und Kiew wollen kurz vor dem Jahreswechsel noch einmal Stärke zeigen und setzen dabei auf große Bühnen.

Vor allem aber nutzte Putin die Versammlung, um einmal mehr auf die Nuklearwaffen der Atommacht hinzuweisen. So sollten etwa bald die neuen, mit mehreren Atomsprengköpfen bestückbaren Interkontinentalraketen vom Typ Sarmat in Dienst gestellt werden, sagte der 70-Jährige. Die annektierten ukrainischen Gebiete werde Russland unter allen Umständen «verteidigen».

Auf Frieden stehen die Zeichen in Washington und Moskau definitiv nicht – auch wenn Selenski einen globalen Gipfel in Aussicht stellt. Er betont aber, es werde "keine Kompromisse" auf dem Weg zum Frieden geben, wie brutal die russischen Angriffe auch werden sollten. "Wir werden Weihnachten feiern", schließt er seine Rede vor dem Kongress, "auch wenn es keinen Strom gibt. Das Licht unseres Glaubens an uns selbst wird nicht erlöschen."

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