Analyse zum Moskau-Terror
"19 Stunden Schweigen – Putin war offenbar überrascht"
Der IS bekannte sich zum Anschlag in Moskau. Zwei Osteuropa-Experten sagen, welche Folgen der Terror für Putin und den Ukraine-Krieg hat.
Die Politologen und Osteuropa-Experten Alexander Dubowy und Ulrich Schmid erklären in einem Interview mit "20 Minuten", warum es der "IS-Khorasan"-Ableger des Islamischen Staates auf Russland abgesehen haben könnte.
Gleichzeitig will einer der beiden aber auch nicht ausschließen, dass Wladimir Putin selbst in den Anschlag verstrickt sein könnte. Denn, da sind sich beide einig, die schrecklichen Ereignisse scheinen dem Kreml-Despoten eher in die Hände zu spielen, als er ihm zu schaden.
Schwieriger Feuerwehr-Einsatz nach Anschlag auf Moskauer Konzerthalle
Die ganze Analyse von Alexander Dubowy und Ulrich Schmid im Detail:
Warum sollte der IS Russland ins Visier nehmen?
Laut Ulrich Schmid wäre ein denkbares Motiv für den IS, sich für die russischen Angriffe auf den IS in Syrien seit 2015 zu rächen. Hinzu kommt: Gemäß Dubowy gilt Russland aus Sicht der Terroristen als Teil der christlichen Gemeinde und damit als Feind. Und: "Der Zeitpunkt war gerade günstig. Putin und der Sicherheitsdienst haben nach der Wahl aufgeatmet und ihre Operation wieder auf die Ukraine konzentriert." Damit habe man die Überwachung im Inland heruntergefahren: "Putin sieht grundsätzlich in der russischen Opposition die größte Gefahr für seine Machtstellung und fährt hier auch die größten Geschütze auf."
Was ist der "IS-Khorasan"?
Der zentralasiatische Arm des IS entstand 2014 in Afghanistan in den Monaten nach der Eroberung großer Teile von Syrien und dem Irak durch Kämpfer des IS. Den Namen hat die Terrormiliz von der historischen Region Khorasan, die sich im Gebiet der heutigen Staaten Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan befindet. Inzwischen hat sie sich zu einer der gefährlichsten Terrorgruppen weltweit aufgeschwungen. Während die Taliban ihren Kampf jeweils auf Afghanistan beschränkten, hat sich der IS-Ableger in Afghanistan und Pakistan den Aufruf der Terrormiliz zum weltweiten Dschihad zu eigen gemacht.
Könnten auch die USA oder die Ukraine dahinterstecken?
Ulrich Schmid hält beide Theorien für unwahrscheinlich. Die USA hätten sonst Russland kaum vor einem Anschlag gewarnt. Und weiter: "Die Ukraine kann man natürlich nie ausschließen. Der ukrainische Geheimdienst hat sich bisher aber auf Angriffe auf die Erdölindustrie in Russland konzentriert. Zudem gab es bisher keine Terroraktionen gegen zivile Großanlässe." So ein Anschlag passe nicht zur Handschrift des ukrainischen Geheimdienstes.
Die Ukraine bezichtigte Putin, den Anschlag inszeniert zu haben. Wie plausibel ist das?
Nach Dubowy reagiert Putin normalerweise schnell und weiß immer, was er sagen will. "Dieses Mal hat er 19 Stunden lang mit der Ansprache gewartet. Er war offenbar überrascht und wollte sich seine Erzählung zurechtlegen. Dann werden Schuldige gesucht, die ihre Posten aufgeben müssen." Daher gehe er nicht von einer Inszenierung aus.
Für ganz so abwegig hält hingegen Schmid die Spekulationen einer Selbstinszenierung Putins mit Blick auf den "Rjasaner Zucker" nicht: "Die Urheberschaft für die Sprengstoffanschläge auf russische Wohnhäuser im Jahr 1999 ist immer noch nicht geklärt – waren es tschetschenische Kämpfer oder der russische Geheimdienst? Jedenfalls begründete Putin mit diesem Terroranschlag den Beginn des zweiten Tschetschenien-Kriegs."
Was bedeutet der Anschlag für den Ukraine-Krieg?
Unmittelbare Folgen erwartet Dubowy nicht: "Wenn der Kreml jetzt einen Ausnahmezustand verhängt, würde es die Menschen nur beunruhigen." Putin möchte deshalb möglichst keine extremen Maßnahmen ergreifen.
Spurensicherer am Tatort des Terroranschlags auf Crocus City Hall in Moskau
Denkt das russische Volk jetzt, dass Putin es nicht beschützen kann? Schadet das seiner Reputation?
Das glaubt Schmid nicht. Der Anschlag spiele eher Putin in die Hände: "Er kann sich als Retter des Vaterlands darstellen und seinen ohnehin harten innenpolitischen Kurs noch verschärfen." Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung könne er nun Repressionen und Überwachungen noch besser rechtfertigen.
Die Opfer des Terroranschlags auf die Moskauer Konzerthalle
Derselben Meinung ist Dubowy. Aber: "Sollte sich herausstellen, dass Russland den Anschlag hätte verhindern können, könnte es für Putins Machtstellung möglicherweise ein Problem werden, weil er die Warnungen der USA offenbar ignorierte." Das russische Regime könnte bloßgestellt werden.
"Putin ist dann nicht mehr der starke Mann, der Russland schützen kann. Und Schwäche will man ihm nicht verzeihen." Insbesondere, da es damit das zweite extreme Versagen wäre. Das erste sei der Prigoschin-Aufstand im letzten Jahr gewesen.
Kann der Westen das propagandamäßig ausschlachten und stärkt es die Moral der Ukraine?
Schmid bezweifelt das: "Der Terroranschlag in Moskau ist eine Tragödie für die betroffenen Menschen. Sowohl im Westen als auch in der Ukraine wird man sich hüten, diese Anschläge zu instrumentalisieren."
Die Bilder des Tages
Auf den Punkt gebracht
- Der IS bekannte sich zum Anschlag in Moskau, und Experten spekulieren über mögliche Folgen für Putin und den Ukraine-Krieg
- Es wird diskutiert, warum der IS möglicherweise Russland ins Visier genommen hat und ob Putin selbst in den Anschlag verstrickt sein könnte
- Trotzdem wird auch erwähnt, dass der Anschlag Putin in die Hände spielen könnte, da er seinen innenpolitischen Kurs verschärfen und Repressionen rechtfertigen könnte