Niederösterreich
10 Jahre Amok-Wilderer: "Einer meiner schlimmsten Tage"
Am 17.9. jährt sich der Amoklauf vom Annaberg zum 10. Mal: 3 Polizisten, 1 Sani und der Wilderer starben. "Heute" war damals vor Ort - eine Reportage.
Es gibt Tage im Leben eines Menschen, die vergisst man nie: Weltweit wäre da in der jüngeren Vergangenheit 9/11 (Terroranschläge in USA am 11.9. 2001, Anm.) zu nennen, aus blau-gelber Sicht der Amok-Wilderer vom Annaberg (Bezirk Lilienfeld). Und da Journalisten und Polizisten auch Menschen sind, sollen zehn Jahre danach nicht nur ausnahmslos Fakten und die Chronologie des beispiellosen Amoklaufes, sondern auch Einblicke in die Arbeit und ins Seelenleben der damals handelnden, leitenden Exekutivbeamten sowie "Heute"-Journalisten gegeben werden.
Am Abend des 16. September 2013 legte ich mich, damals drei Jahre bei "Heute" und in derselben Funktion wie jetzt, kurz vor Mitternacht schlafen. Kurz vor 2 Uhr früh läutete das Handy, welches damals - als die permanente Reizüberflutung durch Whats-App, Socials und Co. noch in den Kinderschuhen steckte - 24 Stunden laut geschalten war.
"Es gibt tote Kollegen, es dürfte DER Wilderer sein" - der damalige nö. Polizeichef und Exekutiv-Legende Franz Prucher
Am anderen Mobiltelefon war in den frühen Morgenstunden niemand Geringerer als der ehemalige Sicherheitsdirektor (SID NÖ, gab es bis 2012 neben der LPD NÖ, Anm.) und damalige Landespolizei NÖ-Chef Franz Prucher. Ein Original, ein Kieberer und Sir vom Scheitel bis zur Sohle, der in der Tat zu allen Themen einen (manchmal nicht jugendfreien) Witz auf Lager hat.
Doch bereits an seiner Stimmlage beim "Hallo" war klar, dass etwas Dramatisches passiert sein musste. In seiner unnachahmlich stoischen und doch punktiert-fesselnden Art meinte der studierte Jurist Franz Prucher: "Du, es ist was echt Schlimmes passiert am Annaberg. Es gibt tote Kollegen, es dürfte der gesuchte Wilderer sein. Viel mehr weiß ich auch noch nicht, ich wollte Dich einfach mal persönlich informieren", so Prucher via Handy.
Heute wäre so eine Informationskette übrigens kaum mehr denkbar, aber vor der DSGVO und dem totalen Social-, Empörungs- und Klage-Zeitalter hatten Journalisten noch vermehrt permanenten und realen Kontakt zu vielen Polizisten und Behörden - viele Pressestellen waren erst im Aufbau.
Mit Tabletten um 3 Uhr nach Annaberg
Meine Wenigkeit, damals nicht ganz fit, rüstete sich mit ein paar "Imodium akut" und "Seractil" aus und setzte sich kurz vor 2.45 Uhr ins Auto in Richtung Annaberg (Bezirk Lilienfeld). Beim Roten Kreuz Lilienfeld war bereits ein Medienzelt aufgebaut, in dem anfangs – es war noch dunkel – nur der "ORF NÖ"-Tross und eben "Heute" in Form eines Ein-Mann-Teams waren. Polizei-Pressesprecher Johann Baumschlager briefte die noch spärlich anwesenden Redakteure und Fotografen sowie Kameraleute: "Zwei Polizisten und ein Sanitäter sind tot. Der Verdächtige flüchtete mit einem Streifenwagen, mit einem Kollegen als Geisel. Bitte, solange noch Hoffnung besteht, dass der Kollege lebt, veröffentlicht online kein Wort."
Als Allererster vor Ort von den leitenden Beamten war übrigens der jetzige Polizeichef und damalige Vize Franz Popp (war schon kurz vor 1 Uhr vor Ort, Anm.). Gemeinsam mit dem damaligen Polizeichef Franz Prucher, dem jetzigen Stellvertreter Hannes Peham und Toni Haumer bildete das Quartett den Führungsstab im Einsatzteam.
Von Annaberg nach Kollapriel
Große Aufregung herrschte indes gleich in aller Früh, als ein Qualitätsmedium entgegen der dringlichen Bitte von Johann Baumschlager kurz einen Artikel über das blutige Drama online (vermutlich unabsichtlich) veröffentlicht hatte. Johann Baumschlager war zu Recht erbost und redete mit den Verantwortlichen der Zeitung Klartext, der Artikel wurde schließlich rasch wieder offline genommen.
Dass der Kollege entgegen aller Hoffnung längst tot war, konnte ja damals noch keiner wissen, der Schausplatz hatte sich in den Morgenstunden ohnedies längst von Annaberg (Lilienfeld) nach Kollapriel (Bezirk Melk), dem Wohnort des Amok-Wilderers, verlagert. Denn dort hatte sich Präzisionsschütze Alois H. in seiner Villa verschanzt, eine stundenlange Geduldsprobe und Nervenschlacht mit einer Atmosphäre wie im Film folgte.
Nach und nach trafen alle bekannten Gesichter der Medienbranche (aus NÖ, dann aus den Bundesländern und schließlich auch ausländische Medien) und Fotografen ein. Am Vormittag kamen ein zweiter "Heute"-Redakteur sowie einige "Heute"-Fotografen nach Kollapriel dazu. Somit waren von "Heute" zwei Redakteure vor Ort, teilten sich die Arbeit bis Mitternacht auf.
Außer gebannt zuwarten und viele Background-Infos über Alois H. und die Toten sammeln, konnten die Medienvertreter bis am späten Nachmittag des 17. September 2013 ohnedies nicht tun. Aber der Reihe nach:
Wilderer wollte Eskalation
Bereits Jahre zuvor hatte der vermögende Waidmann und Unternehmer Alois H., vermutlich nach dem Krebs-Tod seiner Frau innerlich vor Trauer längst erkaltet, immer wieder im Bereich Annaberg gewildert und mit der Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel inszeniert. Der anerkannte und erfahrene Jäger hatte auch ein eigenes Revier, galt als exzellenter Schütze, doch selbst seine geliebte Schäferhündin "Burgi" dürfte ihm über seine Lebenskrise nicht hinweg geholfen haben.
Jahrelang soll der Millionär tagsüber der stille und erfolgreiche Transportunternehmer gewesen sein, nachts brach er brandschatzend in Jagdvillen und -hütten ein, erbeutete Hunderte Waffen, richtete einen Schaden von knapp zehn Millionen Euro an. Vermehrt zeigte der 55-Jährige der Exekutive seine Überlegenheit, enthauptete Hirsche und legte das Haupt des Kadavers verhöhnend auf die Straße. Bereits zwei Jahre vor dem Amoklauf, am Nationalfeiertag 2011, war ein recht kräftiger Jäger an den Wilderer geraten, es kam zum Handgemenge, der Wilderer zückte ein Messer und raste schließlich mit einem Wagen mit gestohlenen Nummerntaferln davon. Die Ermittlungen der Polizei verliefen danach im Sand.
Zunehmend riskierte der mittlerweile intensiv gesuchte Wilderer mehr und legte es auf eine offene Konfrontation mit der Exekutive an: Und in jener kühlen Septembernacht hatte sich der rastlose Alois H. (55) wieder auf die Jagd gemacht - bestens ausgerüstet mit Nachtsichtgerät und Sturmgewehr 77 vom Bundesheer. Die Polizei führte indes in der Nacht auf 17. September eine Wilderer-Schwerpunktaktion mit Unterstützung der Cobra durch.
Kurz nach Mitternacht am 17. September 2013, gegen 0.05 Uhr, tappte Alois H. mit seinem Toyota-Geländewagen in eine Straßensperre der Polizei und eröffnete, ohne mit der Wimper zu zucken, das Feuer. Cobra-Polizist Roman B. (38) wurde schwer getroffen, starb trotz Tragens einer Schutzweste kurz nach seiner Einlieferung im St. Pöltner Spital. Anschließend nahm Alois H. Sanitäter Johann D. (70), der im Rettungswagen saß, ins Visier, tötete den Helfer bei der Zufahrt zur Wundversorgung von Roman B. per Kopfschuss und verletzte einen im Rettungswagen mitfahrenden LKA-Beamten.
Beispielloser Amoklauf
Anschließend lief Alois H. über einen Kilometer durch den Wald, traf bei Kreuzung B 20/B 28 auf einen Streifenwagen, schoss abermals ohne Zögern und tötete dabei zwei Streifenpolizisten und Familienväter - Johann E. (51) und Manfred D. (44). Den ersten Beamten hatte der Schütze per Kopfschuss getötet, der andere Beamte erwiderte das Feuer, traf Alois H. im Bauchbereich. Doch der 55-Jährige schoss abermals zurück und traf auch den zweiten Polizisten tödlich.
Ohne jegliche Skrupel stahl Alois H. den Streifenwagen, ließ eine Leiche einfach auf der Straße liegen und nahm den zweiten Polizisten mit. Dem toten Beamten entledigte er sich schließlich in einer Scheune bei seiner Jagdvilla. Somit gab es drei tote Polizisten, einen toten Sanitäter und einen verletzten Beamten zu beklagen - mehr dazu hier.
Von 7 Uhr früh bis zur Stürmung des Areals von Alois H. in Kollapriel am Abend vergingen viele, schier endlose Stunden. Immer wieder peitschten Schüsse an jenem nass-kalten Septembertag aus der Jagdvilla, um 17.30 Uhr der letzte Schuss und somit das letzte Lebenszeichen des 55-Jährigen. Die Eltern und Angehörige hatten davor vergeblich versucht, Alois H. via Handy zu erreichen und auf ihn einzuwirken. Lediglich bei einem seiner wenigen, echten Freunde hatte sich Alois H. telefonisch gemeldet, seinen Suizid angekündigt und mitgeteilt, dass er seine geliebte "Burgi" bereits erlöst hätte.
Zugriff mit Panzern und Helikoptern
Knapp eine Stunde später, gegen 18.20 Uhr, wurde auf Zugriff entschieden: Panzerfahrzeuge der Cobra und Bundesheer-Panzer fuhren vor, Hubschrauber kreisten über dem Anwesen. "Wir mussten ja auch damit rechnen, dass alles vermint war", erinnert sich Franz Prucher. Mit der Durchsuchung des Anwesens war die Cobra rund sechs Stunden beschäftigt. In einem Geheimbunker fanden die Beamten schließlich die völlig verkohlte Leiche von Alois H., der Feuer gelegt und sich dann per Kopfschuss gerichtet hatte.
Damaliger Polizeichef erinnert sich
"Einer meiner schlimmsten Tage", erklärte der damalige Polizeichef Franz Prucher im Gespräch mit "Heute" am 12. September 2023, also zehn Jahre später. "Weil man zum Teil ohnmächtig ist", so der Offizier weiter. Besonders ans Herz gingen dem Exekutiv-Chef und Präsidenten der "Freunde und Förderer der Polizei NÖ" auch die Kinder und Witwen der Ermordeten.
"Einer meiner schlimmsten Tage. Weil man zum Teil so ohnmächtig ist" - Franz Prucher, damals Polizei-Chef NÖ
Die Ermittlungen des Landeskriminalamtes NÖ zum Fall Annaberg dauerten schließlich bis April 2014. Demnach hatte Alois H. bereits seit 1994 bis Herbst 2013 unfassbare 108 Straftaten, vorwiegend in Niederösterreich und der Steiermark, verübt. Es konnten auch Einbrüche in Wien, Kärnten und Salzburg nachgewiesen werden. Der festgestellte Gesamtschaden beläuft sich laut Polizei auf zehn Millionen Euro. Davon konnten insgesamt 59 Einbrüche in Jagdhäuser, Jagdschlösser, Schießstätten und ein Wildtiermuseum nachgewiesen werden, wobei Alois H. nach Verübung der Einbruchsdiebstähle elf Objekte in Brand setzte. In diesem Zeitraum verübte H. auch 14 Pkw- und Lkw-Einbruchsdiebstähle, 21 Kennzeichendiebstähle und vier Motorraddiebstähle. Die gestohlenen Kennzeichen verwendete H. bei der Durchführung von nachfolgenden Straftaten.
Unglaublich: Der 55-jährige Alois "Lois" H. war sogar bei einigen Promis und vermögenden Jagdgesellschaften eingeladen, verbrachte mehrere Abende in illustren Runden und kam wenig später als Einbrecher in diebischer und zerstörerischer Absicht zurück.
Der Ablauf des Einsatzes in Annaberg wurde von einer Kommission des Bundesministeriums für Inneres evaluiert. Die Neuerung durch das Einsatzleit- und Kommunikationssystems (ELKOS) brachte in der Folge Verbesserung für die Exekutive, auch die Schutzausrüstung, wie Stichwesten, wurden verbessert.
Das sagt Zeitzeugen-Polizist heute
Chefinspektor Johann Baumschlager von der Pressestelle NÖ, der damals von Anfang an am Tatort war und dessen Foto mit den Händen vor dem Gesicht (siehe Bilderserie) zur traurigen Berühmtheit geworden war, sagte eine Woche vor dem 10-Jahre-Gedenken: "Die Taten in Annaberg haben in der Kollegenschaft tiefe Spuren hinterlassen, die noch heute deutlich spürbar sind. Der Fall Annaberg ist innerhalb der Polizei nach wie vor allgegenwärtig. Am 17. September 2013 wurden von dem Täter drei erfahrene Einsatzbeamte getötet. Kinder der Familien wurden dadurch zu Halbwaisen und die Polizei NÖ hat durch die Taten nicht nur drei Kollegen sondern auch drei Freunde verloren."
"Die Polizei NÖ hat 3 Freunde verloren - die Blaulichtorganisationen rückten näher zusammen" - Chefinspektor Johann Baumschlager
Der erfahrene Pressesprecher abschließend: "Niemals in Vergessenheit geraten darf auch der getötete Sanitäter aus Annaberg, der auf dem Weg zu einem schwerverletzten Polizisten war, um Erste Hilfe zu leisten. Die Blaulichtorganisationen in Niederösterreich sind durch den schrecklichen Fall Annaberg noch näher zusammengerückt.“
Am Donnerstag, 14. September 2023, fand im Beisein von Innenminister Gerhard Karner, Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, Franz Prucher, Landespolizeidirektor Franz Popp und vielen anderen am Gedenkstein in Annaberg eine Gedenkveranstaltung statt. Auch zahlreiche Hinterbliebene und Angehörige der Opfer waren gekommen.
"Einer der dunkelsten Tage"
Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner meinte dazu am Donnerstag: „Vier heldenhafte Menschen haben hier vor zehn Jahren unter tragischen Umständen und in der Erfüllung ihrer Aufgaben ihr Leben gegeben. Für die Blaulichtorganisationen, vor allem für die Polizei und das Rote Kreuz, war es einer der dunkelsten Tage ihn ihrer Geschichte." Seit Juni 1945 wurden bundesweit bei keiner Amtshandlung so viele Polizisten getötet.