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Life is Strange 2 trifft hart wie ein Hammerschlag

Rassismus, Polizeigewalt, Flüchtlingsdramen: Life is Strange 2 kennt keine Tabus. Und fokussiert authentisch auf Themen, die andere lieber aussparen.

Heute Redaktion
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Mit den Vorgängern Life is Strange und dem Prequel Before the Storm begeisterte der Entwickler Dontnod Entertainment Spieler wie Kritiker gleichermaßen. Freundschaft, Liebe, Verlust und Zusammenhalt waren die prägenden Themen, mit denen sich so viele Spieler identifizieren konnten und die Jugendlichen Chloe, Max und Rachel wuchsen einem sofort ans Herz.

Hoch waren also die Erwartungen, als Life is Strange 2 zwar wieder in Episoden-Form, aber mit neuen Figuren und neuer Handlung angekündigt wurde. Enttäuscht wurden Spieler nicht, soweit der Eindruck der ersten von fünf Episoden (wir begleiten in diesem Test alle Episoden, sobald sie erscheinen). Überrascht und teils geschockt dafür umso mehr. Auf Steam, wo das Spiel Höchstwertungen einfährt, berichten Spieler, wie sie aufgrund der harten Themen mehrere Pausen beim Spielen einlegen mussten, mit den Tränen kämpften und einfach sprachlos zurückblieben.

Tatsächlich traute sich bisher kaum ein Entwickler, die Themen in ein Spiel zu verpacken, die Life is Strange 2 so selbstverständlich angreift. Dabei beginnt das neue Abenteuer wie ein kindgerechter Zeichentrickfilm. Als Spieler schlüpft man in die Haut von Sean Diaz, lernt seine beste Freundin Lyla kennen und findet sich in einem beschaulichen Vorort von Seattle wieder, in der das größte Problem zu sein scheint, eine Halloween-Party richtig zu planen, um die heimliche Liebe zu beeindrucken.

Moralische Hammerschläge

Sean (16), ein waschechter Jugendlicher, wird wieder äußerst authentisch rübergebracht und weckt sofort Sympathien im Spieler. Auch, weil wohl viele sein Leben kennen: er ist Vorbild seines kleinen Bruders Daniel (9) und Sohn des aus Mexiko stammenden Esteban, der mit ehrlicher Arbeit versucht, in Amerika seine Familie über die Runden zu bringen. Hier wirkt nichts aufgesetzt oder weichgespült, wenn sich die Brüder lachend vergnügen kommt die Familienliebe genauso ehrlich rüber, als wenn man dem Vater eine Notlüge aufbindet, um ihm keine Sorgen zu bereiten.

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Wieder bietet Life is Strange 2 die Möglichkeit, die Geschichte nach eigenen Vorstellungen zu verändern. Über Dialog- und Handlungsoptionen entscheidet der Spieler, wie er mit den Figuren umgehen möchte und welche der Handlungsweisen er moralisch vertreten kann. Auffällig ist, dass es in Life is Strange 2 rasanter als in den Vorgängern zugeht, was die Konsequenzen betrifft. Wurden damals die Entscheidungen nur langsam kniffliger, hagelt es in Life is Strange 2 schon nach wenigen Augenblicken moralische Hammerschläge.

Leben wird Überlebenskampf

Los geht es mit einem Unfall, der die Brüder dazu zwingt, die Flucht zu suchen. Und plötzlich wird aus dem Spiel und Spaß mit dem kleinen Bruder bitterer Ernst. Während Daniel noch an einen großen Witz glaubt, sind wir plötzlich mit einer Art Vaterrolle konfrontiert, die einen Kloß im Hals verursacht. Sollen wir eine Welt zusammenbrechen lassen und dem Kleinen sagen, was passiert ist? Und wie sollen wir für unseren Bruder sorgen, wenn uns die Welt selbst so fremd ist?

Schnell wird das Leben zum Überlebenskampf. Während man vor Entscheidungen steht, wie für die Essenbeschaffung zum Dieb zu werden, erfordert auch Daniel jede Menge Aufmerksamkeit. Statt ein stummer und folgsamer Begleiter zu sein, ist er tatsächlich Kind, hüpft herum und läuft schon mal Dingen nach, die sein Interesse wecken. So muss man nicht nur das gerade aktuelle Spiel-Ziel verfolgen, sondern auch jederzeit die Sicherheit des kleinen Bruders im Auge behalten.

Schonungslos direkt

Doch Dontnod weiß die Emotionen weiter hochzuschrauben und kennt dabei keine Tabus. Wo andere Entwickler zurückscheuen, stößt man hier in die brennendsten Themen unserer Zeit vor. Polizeigewalt, Rassismus, Diskriminierung von Einwanderern und politische Rechtsrucks, alles wird schonungslos integriert. Zwar treffen nicht alle Themen mit der Wucht eines Vorschlaghammers, mehrmals trifft die Wucht des Themas den Spieler aber schonungslos direkt.

Bei der Steuerung und den interaktiven Möglichkeiten sowie der Third-Person-Perspektive bleibt Life is Strange 2 seinen Vorgängern treu und beschränkt sie sehr. Grafik, Soundtrack, Sprache und Effekte sind dafür ein Stückchen gereift und verdienen mit ihrem Life-is-Strange-typischen-Stil Bestnoten. Besonders grafisch darf man sich aber kein Detailmonster erwarten. Die Szenerie passt allerdings und wirkt durch den Inhalt authentischer, als es wohl ein Hochglanz-Grafikwunder rübergebracht hätte.

Mut zum Tabu

So mutig die erste Episode inhaltlich ist, so gibt es doch einige Wünsche an die künftigen vier Folgen. Zum einen werden sich einige Spieler etwas gehetzt fühlen, da der neue Titel so dermaßen schnell auf moralische Extrementscheidungen zusteuert. Zum anderen muss Dontnod noch an den Inhalten feilen, die nicht immer treffsicher sind. Brüllt ein Rassist Parolen, wirkt das ohne weiteren Kontext aufgesetzt statt realistisch. Schaffen die Entwickler hier die Tiefe, wie es etwa beim Thema der mexikanischen Immigranten auf Arbeitssuche in Amerika der Fall ist, wäre das beeindruckend.

Letztlich steht noch ein Fragezeichen hinter der Fähigkeit von Daniel, die ähnlich wie jene von Max aus dem Original ausfällt. Wir erinnern uns: Max konnte die Zeit für einen bestimmten Zeitraum zurückdrehen. Nicht allen Spielern gefiel diese Funktion, die der Geschichte ihre Endgültigkeit nahm und Before the Storm zeigte, wie eine starke Geschichte auch ohne solche Manipulationen erzählt wird. So oder so, hier kehrt eine solche Fähigkeit zurück, muss sich allerdings erst beweisen. Was bisher fest steht: Life is Strange ist ein extrem mutiger Titel, der vor leider in Spielen vorkommenden Tabus nicht zurückschreckt, wieder liebenswerte Figuren erschafft und dabei eine ganz große Neuerung bringt: erstmals verändert man sich im Laufe des Spiels nicht selbst, sondern beeinflusst mit seinen Taten und Worten den eigenen kleinen Bruder – entweder zum Guten, oder zum Bösen. Stark gemacht!

Geduld war gefragt

Nach der im September 2018 erschienen ersten Episode "Roads" war erst einmal Warten angesagt. Lange wurde Spielern kein Zeitraum genannt, in der mit Teil 2 zu rechnen, bis er schließlich Ende Jänner 2019 mit "Rules" erschien. Sean und Daniel sind darin weiter auf der Flucht, während ihr Gesicht über alle TV-Kanäle des Landes flimmert und Sean weiter seine mysteriösen, aber auch zerstörerischen Kräfte entdeckt. Entsprechend feindseliger wird die Umgebung gegenüber dem Duo, was die beiden Buben dazu zwingt, sich ins Haus ihrer Großeltern flüchten zu wollen.

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Dem Titel "Rules", "Regeln", entsprechend obliegt es dem Spieler in Form von Sean, Regeln für seinen kleinen Bruder aufzustellen, etwa seine Kräfte nicht vor anderer Augen zu benutzen. Klar ist: Das Spiel bringt einen immer wieder in die gefährliche Situation, die zuvor festgelegten Regeln selbst wieder zu brechen. Und immer klarer wird, wie sich das Spiel verändert: Daniel orientiert sich an unserem Verhalten und passt sich an – wird entweder zum unberechenbaren Kind ohne Regeln oder zum treuen Bruder, der die Regeln sogar über die körperliche Sicherheit stellt.

Wiedersehen mit Captain Spirit

Wer das in der Vergangenheit erschienene Kurz-Prequel "The Awesome Adventures of Captain Spirit" gespielt hat, darf sich in der zweiten Episode von Life is Strange 2 übrigens auf ein Wiedersehen mit Captain "Chris" Spirit freuen. Der in eine Fantasiewelt geflüchtete Chris und der mit Kräften begabte Daniel kommen sich schnell näher, was zu einem spannenden, aber auch tieftraurigen Ausflug in die Geschichte von Captain Spirit führt. Ebenso erfährt man mehr über die Mutter der flüchtenden Buben, ihr Schicksal war eine der brennendsten Fragen in Episode 1.

Weiter bleibt das Spieltempo eher gemächlich, was dem Spiel gut tut. Die Vorgänger zeigten, dass sich gegen Ende sowieso alles beschleunigt, wenn die Handlungsstränge zusammenlaufen und aufgelöst werden wollen. Bis dahin schafft es der Entwickler Dontnod bisher überragend, den Figuren Glaubhaftigkeit und der Handlung Tiefgang zu verleihen. Ebenfalls wieder grandios: Tabus gibt es weiter keine, der Soundtrack ist einer der einprägsamsten der Videospielgeschichte und die einzigartige Grafik hat sich noch einmal merklich verbessert. Generell zeichnet sich ab, dass Life is Strange 2 die Genialität des Vorgängers noch einmal schlagen könnte – mit dem Weglassen unnötigen Schnickschnacks wie Kostüm-Spielereien und dem Verstärken von Dialogen, Emotionen und der Handlung. Bisher ist man am besten Weg dazu.

Und weiter warten ...

Mit dem Erscheinen der dritten Episode im Mai 2019 stellt sich auch die Frage, ob so lange Zeiträume zwischen den Kapiteln dem Spiel allzu gut tun. Keine Frage, wie seine Vorgänger ist "Life is Strange 2" ein außergewöhnlicher Titel. Wochen- und monatelanges Warten lassen aber die Glanzstücke der einzelnen Episoden schnell in Vergessenheit geraten und Spieler müssen sich jedes Mal neu die Geschichte in Erinnerung rufen.

Wer kein Problem hat, das hinzunehmen, bekommt auch in Kapitel 3 eine spannende Handlung erzählt. Sean und Daniel sind weiter auf ihrer Reise, müssen aber erst einmal Geld dafür besorgen. Eine Möglichkeit ergibt sich für das junge Duo dabei auf einer illegalen Marihuana-Plantage. Zuvor aber steht ein Wiedersehen mit anderen Figuren aus den vorigen Episoden am Programm, aus dem sich die Bildung einer Gruppe Jugendlicher ergibt, deren Mitglieder jeweils von anderen Problemen geplagt werden. Folglich stockt das Abenteuer etwas und widmet sich lieber den Figuren selbst, was der Qualität keinen Abbruch tut.

Kleiner Durchhänger

Knalleffekte oder überraschende Wendungen bleiben in Episode 3 aus, und auch die wieder vom Spieler zu treffenden Dialog- und Handlungsentscheidungen scheinen dieses Mal nicht allzu weltbewegend für den weiteren Verlauf des Episoden-Abenteuers zu sein. Etwas nervt eine Besonderheit der Episode, die die bisherigen Kapitel und die anderen Spiele umschifft haben: Daniel zeigt sich immer mehr wütend und traurig über Geschehnisse, die der Spieler selbst nicht verändern kann.

So ist er zornig, wenn wir uns mit anderen Jugendlichen unterhalten – der Spieler als Sean kann seinem Bruder aber weder mehr Zeit widmen, noch die erzwungenen Begegnungen mit anderen Figuren vermeiden. "Life is Strange" und "Life is Strange: Before the Storm" ließ Spieler dagegen in emotional aufgeladenen Momenten die Möglichkeit, sich gegenüber den anderen Spielfiguren zu erklären, unsere Motive zu schildern und aktiv entweder die Konfrontation oder die Versöhnung suchen. In erzählerischer und spielerischer Hinsicht muss Episode 3 deshalb als kleiner Durchhänger gesehen werden, einzig ein großer Knall wartet am Ende.

Ein Jahr später

Beinahe ein Jahr nach der ersten Episode erschien mit "Faith" Episode 4 von "Life is Strange 2". Folgengemäß geht es damit eine Folge vor Schluss zum Aufbau und mittenrein in den Höhepunkt der Serie. Und auch im Spiel selbst ist Zeit vergangen. Seit den explosiven Ende von Episode 3, in dem Sean, Daniel und ihre Begleiter bei einer Konfrontation mit Fremden verletzt wurden, sind zwei Monate ins Spielland gezogen. Nach Wochen im Koma erwacht Sean deutlich gezeichnet in einem Spital und unter Arrest.

Erst spät gibt es einen Hinweis auf den Verbleib von Bruder Daniel. Skurril: Zwar klingt eine Flucht aus dem Spital und eine Reise zu Daniel spannend, spielt sich aber eher ruhig und gemütlich. Das ändert sich ab der Hälfte der Episode dramatisch, denn mit dem Auftauchen eines seltsamen Kults steht das Spiel Kopf. Immer wieder blendet das Spiel dabei auch zurück in die Vergangenheit noch vor den Geschehnissen der ersten Episode.

Episode wirkt seltsam leer

Episode 4 bietet eine guten Mix aus ruhigen und actiongeladenen Elementen und spielt wieder mit großen Emotionen, wirkt aber insgesamt seltsam leer. Mag es das Fehlen von Daniel über weite Teile der Episode sein, oder dass viele vorgestellte Figuren kaum bis gar nicht mehr vorkommen – mit Sean alleine spielt sich Episode 4 einfach nicht so stimmig wie noch die vorigen Abenteuer. Rassismus und Fanatismus spricht der Teil offen und schonungslos an, bei den Figuren bleibt die Episode aber farblos.

Eine kleine Befürchtung offenbart sich auch am Ende, denn für das Finale ist irgendwie noch nicht vorgesorgt. Bleibt zu hoffen, dass die Entwickler nicht die ganzen großen Wendungen und Geschehnisse im Sekundentakt in der letzten Episode runterrattern. Da wäre es uns viel lieber, wenn es etwas ruhiger zugeht, dafür aber die Figuren noch ihren letzten Schliff bekommen. Denn die machen die wirkliche Stärke dieses "Life is Strange"-Abenteuers aus.

Das Abenteuer endet, aber wie?

Das ist die Frage nach Episode 4 und sie wird nun beantwortet. Die beiden Brüder sind am Ende ihrer Reise in Arizona an der Mauer zu Mexiko angekommen und die Handlung nimmt endlich wieder emotionale Fahrt auf. In einem Camp für Aussteiger treffen wir erst auf alte Bekannte, bevor wir schon wieder auf der Flucht vor der Polizei sind. Die Episode eilt von Geschehnis zu Geschehnis, schafft es dieses Mal aber, Emotionen zu transportieren.

Dennoch: Ein "Life is Strange"-Gefühl wie in den Vorgängern kommt nicht auf. Das liegt vor allem am Setting, das die Figuren oft wechseln lässt, statt zu den immer gleichen Charakteren engere Bindungen aufzubauen. Während "Life is Strange" und "Before the Storm" ein Drama über die Game-Episoden aufbaut, serviert "Life is Strange 2" pro Episode mehrere kleine Dramen, die später keine Rolle mehr spielen.

Trotzdem ein würdiges Ende

Auch die Entscheidungen, die man nun über vier Episoden getroffen hat wirken weit weniger folgenreich als es noch in den Vorgängern der Fall war. Zumindest: Das Spiel steuert je nach Wahl auf eines von insgesamt sieben Enden zu, was einen gewissen Wiederspielwert bietet. Zugute halten muss man dem Spiel aber die Abwechslung bei Figuren und Schauplätzen sowie der schonungslose Mut, die Themen Ausländerfeindlichkeit, Homosexualität und Gewalt ohne Klischees zu verarbeiten.

Am Ende der Episode gibt es schließlich einen Abschluss, der zutiefst emotional wird und der das Spiel dann auch zu einem echten "Life is Strange" macht. Die verschiedenen Enden haben eines gemeinsam: Sie packen den Spieler allesamt, egal ob die Brüder zu glücklichen Männern oder gebrochenen Gestalten werden. Das macht "Life is Strange 2" zu einem außergewöhnlichen Abenteuer, das aber doch etwas hinter den Vorgängern zurückbleibt.