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Warum kam der ICE-Täter bis nach Deutschland?

Nach dem ICE-Täter H.A. wurde nicht europaweit gefahndet. Ein Experte erklärt jetzt, warum die Polizei die Gefahr nicht erkannte.

Heute Redaktion
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Vier Tage bevor er in Frankfurt einen Buben (8) und seine Mutter aufs Gleis stieß, sperrte der mutmaßliche ICE-Täter H. A.* am Wohnort in Wädenswil (Schweiz) seine Frau sowie seine Kinder im Alter von 1, 3 und 4 Jahren ein und bedrohte die Nachbarin mit einem Messer.

Die Opfer gaben an, sie hätten den Mann noch nie so erlebt, wie die Kantonspolizei Zürich an einer Pressekonferenz mitteilte. Die Polizei schrieb A. nur in der Schweiz zur Fahndung aus. Obwohl A. mitsamt dem Messer floh, wurde nicht europaweit nach ihm gesucht. "Wir hatten absolut keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Flüchtige ins Ausland absetzen könnte", sagte Werner Schmid, Chef der Regionalpolizei. Da der Mann bisher nie auffällig wurde, sei man nicht von einer solchen Gewaltbereitschaft ausgegangen, so Staatsanwalt Thomas Brändli. "Fälle von häuslicher Gewalt kommen täglich mehrfach vor."

So wurde die Wohnung von A. auch erst nach der Tat in Frankfurt durchsucht. Erst dann habe die Polizei Dokumente gefunden, die auf eine psychische Erkrankung hingewiesen hätten.

Wo sich A. in der Zeit zwischen dem Übergriff in der Schweiz und der Tat in Frankfurt aufhielt, ist nicht bekannt. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer wurde vor den Medien gefragt, weshalb Deutschland nichts von der Fahndung in der Schweiz gewusst habe. Seehofer antwortete, man müsse die Schweizer Behörden fragen.

"Wenn eine internationale Fahndung vorgelegen hätte und er an der Grenze kontrolliert worden wäre, dann hätten wir ihn geschnappt", sagte Bundespolizeipräsident Dieter Romann. Seehofer kündigte daraufhin an, Deutschland müsse sich mit der EU-Ratspräsidentschaft dafür einsetzen, das europäische Fahndungssystem zu "harmonisieren".

ZHAW-Kriminonologe Dirk Baier sagt: "Europaweite Ausschreibungen erfolgen in Fällen, in denen eine schwere Straftat begangen wurde, zum Beispiel versuchte Tötung. Also dann, wenn man es mit einem Täter zu tun hat, den man als so gefährlich einstuft, dass er ein ähnliches Delikt überall sonst verüben könnte." Gegen H. A.* hat die Polizei in einem Fall von häuslicher Gewalt ermittelt. Die Schweizer Kriminalstatistik zeige, dass diese in den allermeisten Fällen mit leichteren Straftaten wie Stalking oder leichter Körperverletzung einhergehe, so Baier.





Es sei möglich, dass das Wissen, dass er nach seiner Attacke auf die Nachbarin und seine Familien polizeilich gesucht wurde, A. vollkommen habe durchdrehen lassen. "Die Dynamik des Falles ist eigenartig. Dass ein Täter nach einer ersten Auffälligkeit innerhalb weniger Tage ein so schwerwiegendes Vergehen verübt, ist äußerst selten." Aufgrund der wahnsinnig schnellen Eskalation sei die Tat von A. für die Polizei kaum vorhersehbar gewesen.

Es sei wichtig, solche Fälle gut aufzuarbeiten und daraus zu lernen, sagt Baier. Aber: "Es gibt leider jährlich Tausende Fälle von häuslicher Gewalt. In der ganz großen Mehrheit davon hilft das polizeiliche Vorgehen." Um psychische Probleme einer erstmals auffälligen Person zu erkennen, seien Beamte auf die Hilfe von Angehörigen angewiesen: "An Schizophrenie Erkrankte etwa sind zu extremen und unvorhersehbaren Taten fähig. Hier ist es wichtig, dass auch kleinste Hinweise auf psychische Erkrankungen mitgeteilt werden."

*Name der Redaktion bekannt (jd/20 Minuten)