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Darum zieht Erdogan die Wahlen vor
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei werden überraschend um mehr als ein Jahr vorgezogen. Ein Türkei-Kenner erläutert die Gründe.
Bisher hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP) stets betont, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wie geplant am 3. November 2019 stattfinden würden. Am Mittwoch nun hat er überraschend vorgezogene Neuwahlen auf den 24. Juni diesen Jahres angesetzt. Zur Begründung führte er die Situation in den Nachbarländern Irak und Syrien an.
Laut Erdogan fiel die Entscheidung am Mittag bei einem Treffen mit dem Vorsitzenden der ultrarechten MHP, Devlet Bahceli. Erdogans Verbündeter hatte am Vortag überraschend Neuwahlen gefordert. Die MHP ist formell Oppositionspartei, Bahceli unterstützt Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP jedoch seit langem. Zur Parlamentswahl wollen AKP und MHP in einem Wahlbündnis antreten.
Der MHP-Vorsitzende nannte den 26. August als Wahltermin, der von Erdogan nun verkündete Termin liegt noch deutlich früher. Die Oppositionsparteien – die linksnationalistische CHP und die prokurdische HDP – erklärten, sie wollten die Herausforderung annehmen.
Noch schneller mehr Macht
Die nächste Wahl bedeutet für die Türkei ein Wechsel zum Präsidialsystem, das vor einem Jahr bei einem umstrittenen Referendum mit knapper Mehrheit gebilligt worden war. In dem neuen System werden die Befugnisse des Präsidenten deutlich ausgeweitet, während das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wird.
Frühe Wahlen kommen Erdogan aber auch aus anderen Gründen entgegen. Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, sagt aus welchen:
Die Wirtschaft
"Auf vorgezogenen Wahlen könnten die internationalen Märkte positiv reagieren, weil sie mehr Ruhe in die politische Situation bringen könnte", sagt Brakel. Weiter ließe sich auf andere wirtschaftliche Schwierigkeiten besser reagieren, etwa durch Anhebung der Leitzinsen, so der Experte. Zwar wuchs die türkische Wirtschaft im Jahr 2017 um 7,4 Prozent, doch verharren die Inflation und die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau, während die türkische Lira seit Monaten fällt und allein im März acht Prozent ihres Wertes verlor.
Erdogans Popularität
"Seit der Militäroffensive gegen die YPG in Afrin steht Erdogan relativ gut da", sagt Brakel. Während die "Operation Olivenzweig" gegen die kurdischen Milizen im Norden Syriens in Europa auf viel Kritik stieß, hatte Erdogan zuhause dafür großen Rückhalt. Brakel zufolge könnte sich auch die zeitliche Nähe der vorgezogenen Wahlen zum Jahrestag des Putschversuches im Juli 2016 positiv für Erdogan auswirken.
Diashow: Wer kämpft eigentlich gegen wen im Norden Syriens?
Kommunalwahlen 2019
Als weiteren wichtigen Punkt nennt Brakel die Kommunalwahlen. Diese werden nicht wie die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorgezogen, sondern wie geplant 2019 durchgeführt. "Dabei könnte die AKP schlechter abschneiden", sagt Brakel. Nun aber schließe man einen für Erdogans Partei negativen Effekt auf die Parlamentswahlen aus.
Herausforderung für Opposition
Den Oppositionsparteien bleiben jetzt nur wenige Wochen, um sich für die Abstimmung in Position zu bringen. Laut Türkei-Experte Kristian Brakel hätten sich die wirtschaftlichen Probleme für CHP und HDP möglicherweise in Zugewinne an den Wahlurnen verwandeln lassen, wenn sich diese bis 2019 noch ausgeweitet hätten.
Beide Parteien haben erklärt bereit zu sein für die vorgezogenen Wahlen, "allerdings wird es für sie und besonders die HDP in diesem restriktiven Umfeld schwierig werden, Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren", sagt Brakel.
Noch ist unklar, wer für die Opposition ins Rennen gegen Erdogan geht. Auch ist offen, ob sich die Oppositionsparteien zu einem Wahlbündnis zusammenschließen. Die linksnationalistische CHP führte dazu in den vergangenen Wochen Gespräche mit der neu gegründeten Iyi-Partei der MHP-Dissidentin Meral Aksener und der islamisch-konservativen Saadet-Partei. (woz/kko/20 Minuten)