Keine guten Erinnerungen
Tour-Leader Wellinger bekämpft "Innsbruck-Fluch"
Der Deutsche Andreas Wellinger kommt als Tournee-Führender auf den Innsbrucker Bergisel. Eine Schanze, mit der er eine Rechnung offen hat.
Andreas Wellinger lernt jeden Tag von David Beckham, wie der Weg nach ganz oben funktioniert. Die Netflix-Serie über den englischen Fußballstar gehört während der Vierschanzentournee zum abendlichen TV-Programm des Skispringers, der als Führender der Gesamtwertung gerade selbst an einem Sport-Märchen schreibt. Aber erst, wie Beckham, noch so manches Hindernis überwinden muss.
In Wellingers Fall hat die nächste Herkulesaufgabe einen Namen: Bergisel. Seit Jahren platzen auf der traditionsreichen Schanze regelmäßig die Tournee-Träume der deutschen Adler, längst ist vom "deutschen Schicksalsberg" die Rede. Den coolen Bayern aus Ruhpolding lässt das jedoch kalt. "Ich mag den Bergisel", sagt Wellinger vor dem Wettkampf am Mittwoch trotzig.
Halbzeit-Führender
Tatsächlich ist Wellinger noch immer der letzte Deutsche, der bei der dritten Tournee-Station das Podest erreichte, 2018 war das mit Rang drei. Nun tritt er als erster deutscher Halbzeit-Führender seit Sven Hannawald vor 22 Jahren an. "Die Ausgangslage ist extrem gut, aber abgerechnet wird zum Schluss", sagt der zweimalige Olympiasieger.
Bisher geht Wellingers Rechnung voll auf: Mit 600,7 Punkten liegt er zwar umgerechnet nur einen Meter vor dem Japaner Ryoyu Kobayashi (598,9). Stefan Kraft, vor der Tournee klarer Favorit, liegt als Dritter mit 575,5 Punkten aber schon deutlich zurück. "Der Rückstand ist leider eine Nuance zu groß", sagt auch der Österreicher selbst.
Deutsche Bruchlandungen
Alles läuft also auf ein Duell zwischen dem Herausforderer Wellinger und dem zweimaligen Tournee-Champion Kobayashi hinaus. Innsbruck wird für den Deutschen nun zur Reifeprüfung, an der so viele andere scheiterten: Severin Freund stürzte dort 2016 ebenso wie zwei Jahre später Richard Freitag. Markus Eisenbichler (2019) und Karl Geiger (2020 und 2021) patzten jeweils als Gesamt-Zweite.
Deutschlands Trainer Stefan Horngacher will dennoch nichts von einer "Schicksalsschanze" wissen. "Der Bergisel macht uns gar nichts aus. Wir trainieren viel darauf, speziell Andi, der in der Nähe wohnt", sagt der Österreicher. Und auch Geiger, als 14. der Gesamtwertung weit hinter den Erwartungen zurück, macht seinem Teamkollegen Mut: "Ich glaube, dass Andi das Ding rocken wird. Er macht das saugut."
WM-Zuschauer und Degradierung
Immerhin: Der berüchtigte Föhnsturm soll in diesem Jahr einen Bogen um den Bergisel machen. "Ich hoffe, dass die Bedingungen passen, damit der beste Springer gewinnt", sagt Wellinger, der in Innsbruck auch schon schwarze Stunden erlebte. Bei der WM 2019 etwa musste er nach schwachen Leistungen zuschauen, wie die deutsche Mannschaft ohne ihn Gold holte.
Und es ging noch bitterer: Im Januar 2021 landete er am Bergisel im zweitklassigen Continental Cup nur auf Rang 50 und wurde in den FIS-Cup geschickt, die 3. Liga des Skispringens.
Drei Jahre später ist Wellinger zurück - und so nah am Tourneesieg wie keiner Deutscher mehr seit 22 Jahren. "Ich bin stolz, dass ich in dieser Situation bin", sagt er: "Jetzt ist es die Kunst, sich bis zum letzten Sprung am wenigsten zu erlauben." Vor allem in Innsbruck.