Welt
"Todesengel" Lucy und die brutale Kindsmord-Serie
Es ist die wohl schlimmste Serie von Kindsmorden der jüngeren Geschichte in Großbritannien: Sieben Babys hat eine Pflegerin getötet.
Lucy Letbys Name hat sich in die Kriminalgeschichte Großbritanniens eingebrannt. Sieben Babys hat die junge Pflegefachfrau getötet, bei sechs weiteren hat sie es versucht – am Freitag hat eine Jury in Manchester Lucy Letby wegen Mordes und versuchten Mordes schuldig gesprochen. Das Strafmaß folgt am kommenden Montag – die heute 33-Jährige wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach den Großteil ihres Lebens im Gefängnis verbringen müssen.
Laut Anklage hatte Letby die Neugeborenen zwischen Juni 2015 und Juni 2016 umgebracht, indem sie ihnen Luft injizierte oder sie mit Insulin vergiftete.
Obwohl der Prozess beendet ist, sind zahlreiche Fragen noch offen. Die erste: Wie konnte es nur so weit kommen? Der britische "Observer" liefert eine Chronologie des Falles. Dabei wird klar: Obwohl Letby immer während den Schichten gearbeitet hat, in denen ein Kind überraschend starb oder plötzlich um sein Leben kämpfte, geschah lange nichts.
Montag, 8. Juni 2015
Kurz vor 21 Uhr stirbt das erste Kind auf der Neugeborenenstation des Countess of Chester Hospitals. Der Bub war als Frühchen auf die Welt gekommen, sein Gesundheitszustand wurde als stabil bezeichnet. Nachdem Letby um 20 Uhr ihre Arbeitsschicht beginnt, verschlechtert sich der Zustand des Säuglings rapide.
Samstag, 13. Juni 2015
Das zweite Baby muss notfallmäßig intubiert werden, nachdem Letby es fütterte. Die Ärzte versuchen stundenlang, dem Frühchen zu helfen. Der Bub stirbt in den frühen Morgenstunden des 14. Juni.
Sonntag, 21. Juni 2015
Als Letby an dem Tag ihre Schicht antritt, spricht das dritte Baby auf die Behandlung an und es wird keine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes erwartet. Über Nacht färbt sich die Haut des kleinen Mädchens braun-schwarz, es muss wiederbelebt werden. Nach vier Uhr morgens am 22. Juni erklären die Ärzte den Säugling für tot.
Donnerstag, 2. Juli 2015
Der Kinderarzt Stephen Brearey bringt Lucy Letby zum ersten Mal mit den ungewöhnlichen Todesfällen auf der Neugeborenenstation in Verbindung. Während einer Sitzung mit der Pflegedienstleitung des Spitals, an der zwei weitere Kollegen teilnehmen, heißt es aber: "Lucy kann es nicht gewesen sein. Nicht die nette Lucy", sagt Brearey.
Montag, 3. August 2015
Eine Mutter von Zwillingen entdeckt eines ihrer Babys schreiend und mit frischem Blut um den Mund. Letby beruhigt sie: "Vertrauen Sie mir. Ich bin eine Pflegefachperson." Sie gibt an, der Arzt sei unterwegs für eine Kontrolle. Das ist eine Lüge. Kurz nach ein Uhr morgens stirbt der Bub, obwohl der Kinderarzt stundenlang versuchte, dem Säugling das Leben zu retten. Es ist Letbys viertes Opfer.
Freitag, 23. Oktober 2015
Nachdem das kleine Mädchen in den vergangenen Tagen mehrmals wiederbelebt wird, beginnt es in der Nacht zu weinen. Der zuständige Kinderarzt kann nicht verstehen, welcher natürliche Krankheitsprozess dazu führt, dass sich der Zustand des Babys immer wieder so schnell verschlechtert. Nach einer weiteren Reanimation wird das Mädchen um 2.30 Uhr für tot erklärt. Opfer Nummer fünf.
Ende Oktober 2015
Bei einer internen Untersuchung stellen die Ärzte fest, dass Letby die einzige Mitarbeiterin ist, die bei jedem der ungeklärten Todesfälle anwesend war. Die Verbindung zur beliebten Pflegefachfrau wird an diesem Tag laut Kinderarzt Stephen Brearey als "reiner Zufall" angesehen.
Anfang Februar 2016
Brearey schickt dem medizinischen Direktor des Spitals, Ian Harvey, einen Bericht und bittet um ein dringendes Treffen. Doch trotz der steigenden Zahl der Todesfälle findet drei Monate lang kein solches Treffen statt. Laut Brearey wäre dies der Zeitpunkt gewesen, an dem Maßnahmen hätten ergriffen werden müssen.
Mai 2016
Der Spitalleiter präsentiert einen zweiseitigen Bericht, in dem er auf die Bedenken von Brearey und seinen Kollegen eingeht. Der erste Satz: "Es gibt keinerlei Beweise gegen LL [Lucy Letby]. Es ist ein Zufall."
Donnerstag, 23. und Freitag, 24. Juni 2016
Lucy Letby kümmert sich um 48 Stunden alte Drillinge auf der Station. Kurz nach dem Mittag erbricht einer der Buben unverdaute Milch, wenig später ist der Bauch aufgebläht. Um 17.47 Uhr stirbt das Kind.
Am nächsten Morgen geht es seinem Bruder auch schlecht. Das Kind atmet kaum, sein Bauch bläht sich auf. Es soll in ein anderes Spital verlegt werden, doch kurz vor 16 Uhr kollabiert es und stirbt.
Einer der behandelnden Ärzte hat plötzlich das Gefühl, dass der überlebende Drilling in großer Gefahr ist. Das Kind kollabiert während Letbys Schicht, es kann aber noch rechtzeitig verlegt werden. Der Bub hat jedoch einen irreversiblen Hirnschaden davongetragen.
Die leitenden Ärzte der Station fordern, dass Letby nicht mehr arbeiten soll. Doch die Spitalsleitung geht zunächst auf die Forderung nicht ein.
Montag, 27. Juni 2016
Der Wendepunkt im Fall: Eirian Powell, Leiter der Neugeborenenstation, lädt die damals 25 Jahre alte Letby zu einem Gespräch in seinem Büro ein und teilt ihr mit, dass sie keine Nachtschichten mehr machen dürfe. Die Pflegefachfrau gerät in Panik.
Donnerstag, 30. Juni 2016
Es ist Letbys allerletzte Schicht im Spital. Sie kommt für einen Zeitraum von drei Monaten in ein Büro, wo sie Einsicht in sensible Patientenunterlagen hat.
Mittwoch, 7. September 2016
Lucy Letby erhält einen Brief des Royal College of Nursing, in dem ihr mitgeteilt wird, dass sie für die sieben Todesfälle verantwortlich gemacht wird.
Dienstag, 3. Juli 2018
Die Ermittlungen führen zu Letbys erster Festnahme. Wegen Mangels an Beweisen wird die Pflegerin freigelassen. Am 10. Juni 2019 nimmt die Polizei sie erneut fest. Doch auch diesmal können die Ermittler und Ermittlerinnen der Frau nichts nachweisen.
Dienstag, 10. November 2020
Lucy Letby wird zum dritten Mal festgenommen. Von nun an wird sie in U-Haft bleiben.
Samstag, 19. August 2023
Einen Tag nach dem Urteil kündigt die Regierung in London eine Untersuchung an. In dem öffentlichen Verfahren sollten die weiteren Umstände zu den Taten der Pflegerin geklärt werden, teilt Gesundheitsminister Steve Barclay mit.
"Wir müssen uns anschauen, warum es so lange gedauert hat, bis sich das Management einverstanden erklärte, die Polizei einzuschalten", sagte der inzwischen pensionierte Kinderarzt John Gibbs zum Nachrichtensender Sky News. Hätten die Bedenken der Ärzte früher Gehör gefunden, könnten vier oder fünf der getöteten Babys inzwischen Schulkinder sein, meinte ein anderer Arzt, der früher mit Letby zusammengearbeitet hatte.