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So bahnte sich Vater (61) Weg zu Sohn in Terror-Kibbuz
Sein Sohn war in Todesgefahr. Also schnappte sich Noam Tibon eine Pistole und machte sich auf den Weg, ihn zu retten.
Eigentlich dachte man, dass Israels Grenzen zum Gazastreifen bestens geschützt seien. Als Noam Tibon während seiner morgendlichen Schwimmeinheit am Strand von Tel Aviv Kampfjets hörte, dachte er sich deshalb nicht viel dabei. Nachdem er seine Bahnen gezogen und auf sein Handy geschaut hatte, verstand er jedoch, dass das Getöse der Kampfjets einen berechtigten Grund hatte. "Papa, im Kibbuz sind Terroristen", schrieb ihm sein Sohn Amir (34). Die Terrororganisation Hamas hat die Grenzen überschritten und überfiel Zivilistinnen und Zivilisten.
Der ehemalige Elitekämpfer des israelischen Militärs zögerte keine Sekunde: Er fuhr nach Hause, packte sich eine Pistole und machte sich auf den Weg zum Kibbuz Nahal Oz, der nur wenige Hundert Meter vom Grenzraum entfernt liegt und Wohnort seines Sohnes und dessen Familie ist. "Wenn Terroristen im Kibbuz sind, bedeutet es, dass das Sicherheitssystem kollabiert ist", sagt Tibon. Israels Streitkräfte konnten die Hamas nicht aufhalten, also musste er sich selbst um die Sicherheit seines Sohnes und seiner Enkelkinder kümmern.
Er hatte noch nie solche Angst
Noam Tibon ist 61 Jahre alt und ein erfahrener Soldat. Er hat Erfahrungen als Fallschirmjäger im Libanon und als Kämpfer einer Eliteeinheit für Terrorismusabwehr. Dennoch verspürte er kaum jemals solche Angst wie an jenem Morgen: "Ich war oft in Gefahr, aber wenn du weißt, dass deine Enkeltöchter getötet oder entführt werden könnten, ist das wirklich beängstigend", schildert er. Bevor er aufbrach, hatte er seinen Sohn angewiesen, sich im Sicherheitsraum zu verschanzen und möglichst keinen Mucks von sich zu geben. Doch er wusste nicht, ob seine Anweisungen sie retten würden.
Auf dem Weg in den Süden sahen Tibon und seine Frau das Ausmaß der Tragödie. "Ich habe so etwas noch nie gesehen", erzählt Tibon. Und er hat 35 Jahre beim Militär auf dem Buckel. Mitten auf der Straße lieferten sich israelische Soldaten Gefechte mit Terroristen, Leichen lagen auf dem Weg und Zivilistinnen und Zivilisten rannten ihnen entgegen. "Es waren Szenen, die man sonst nur aus Filmen kennt", so Tibon weiter. Doch er wusste, sie waren real und sein Sohn war mittendrin.
"Diese Männer sind Helden"
Obwohl sein Sohn in größter Gefahr war, sammelte das Ehepaar die fliehenden Zivilistinnen und Zivilisten ein und brachte sie in Sicherheit. Seine Frau kümmerte sich zudem um verletzte Soldaten und brachte sie in ein Spital. Tibon hingegen reiste allein weiter in Richtung seines Sohnes Familie. Auf dem Weg stieß er auf einen alten Militärfreund – auch er war allein losgezogen, um den Menschen im Süden zu helfen. Gemeinsam zogen sie weiter bis Nahal Oz, wobei sie auf zwei Militäreinheiten stießen, denen sie sich anschlossen.
Als sie dort ankamen, waren die Gefechte schon vorüber. "Es war ganz ruhig", erzählt Tibon. "Wir gingen von Haus zu Haus. Wir sahen Leichen von Terroristen, von Zivilisten und von israelischen Soldaten." Bevor er nach dem Wohlergehen seines Sohnes sehen konnte, mussten er und die mitgereisten Soldaten jedoch erst mal den Korridor sichern, "um sicherzugehen, dass uns niemand von hinten erschießt". Gegen 15 Uhr erreichte er dann endlich das Haus seines Sohnes. Es lagen fünf Leichen von Hamas-Terroristen und ein israelischer Soldat vor dem Haus, das Gebäude selbst war unbeschädigt.
Er ging zum Fenster und klopfte. "Amir, ich bin es, Papa!" Sein Sohn war noch am Leben und antwortete ihm. "Ich bin hier", rief er. Er und seine zwei Töchter waren wohlauf, die Familie vereint. "Die Männer, die mit mir gekämpft haben, sind Helden", resümiert Tibon.