Enorme Verluste bei Awdijiwka
Russen unter Schock: "Übersteigt unser Verständnis"
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht keine echten Zahlen zu den eigenen Gefallenen. Jetzt gibt es einen Aufschrei der Angehörigen.
Die ukrainische Armee musste den Kampf um Awdijiwka aufgeben. Die ehemalige Industriestadt war seit 2014 Vorposten der Ukraine in unmittelbarer Nähe zur Separatisten-Hochburg Donezk. Putins Invasionsarmee hatte dann im Oktober 2023 einen neuen Großangriff gestartet, der bis vor kurzem erfolgreich abgewehrt werden konnte.
In den letzten Tagen war die Lage für die ukrainischen Verteidiger aber in der Stadt immer schwieriger geworden. Es fehlte an Munition, frischen Soldaten, dazu drohte eine komplette Einkesselung.
Die ukrainischen Verteidiger würden sich unter "unmenschlichen Bedingungen" gegen die Russen erwehren, schrieb der Pressedienst der Awdijiwka verteidigenden 110. Brigade noch am Freitag auf Facebook: "Heute wirft der Feind enorme Kräfte in Form von Personal, gepanzerten Fahrzeugen und Flugzeugen in Richtung Awdijiwka."
Wenige Stunden später gab der neu bestellte Chef der ukrainischen Streitkräfte, Oleksander Sirski, dann offenbar den Befehl für den Rückzug. Die Stadt fiel in Feindeshand.
Angehörige entsetzt
Die russische Propaganda-Maschine schlachtete den ersten großen Gewinn seit Bachmut nach ganzer Linie aus. Was dabei kaum zur Sprache kam: die Einnahme von Awdijiwka wurde mit Unmengen an Blut erkauft.
Bilder: So zerstört ist Awdijiwka jetzt
Das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht keine (glaubhaften) Daten zu den eigenen Gefallenen, doch die Verluste dürften enorm sein. Die Betreiber der russischen Telegram-Gruppe НЕ ЖДИ меня из Украины (dt. etwa "Wartet nicht auf mich aus der Ukraine"), die als Anlaufstelle für Angehörige von Getöteten und Vermissten fungiert, reagierten geschockt auf die ihnen zugeschickten Berichte aus den Reihen der eigenen Soldaten.
"Wissen nicht, was wir ihnen antworten sollen"
️"Unser Kanal hat sich nie zur Zahl der Todesfälle bei einem bestimmten Einsatz geäußert. Aber was jetzt in Awdijiwka passiert, übersteigt unser Verständnis", schreiben sie am Abend des 16. Februar, dem Tag des entscheidenden Russen-Vorstoßes. Alleine in den letzten 24 Stunden sollen demnach bei der Schlacht um Awdijiwka "mehr als 1.300 russische Soldaten" getötet worden sein.
Dazu gebe es Tausende Verwundete, deren Schicksal sich erst am nächsten Morgen entscheiden werde. Die Feldärzte und Sanitäter hätten "einfach keine Zeit, die notwendige Hilfe zu leisten, da der Zustrom von Verwundeten nicht aufhört".
Der russische Kanalbetreiber ist fassungslos: "Die vielen Nachrichten von Angehörigen in den letzten Tagen lassen mich erschauern... Wir wissen nicht, was wir ihnen antworten sollen... Keine Worte..."
16.000 Tote?
In einer Zusammenfassung der Wochenereignisse, veröffentlicht am 18. Februar, findet sich noch eine weitere Notiz zu den enormen Verlusten in Awdijiwka: "Von den 4.000 Menschen einer der Brigaden der russischen Streitkräfte in dieser Richtung blieben nur 30 Prozent übrig."
Das Institute for the Study of War (ISW) nennt in seinem jüngsten Lageupdate weitere russische Militärblogger, die die unglaublich hohe Zahl an Gefallenen kommentierten. Dem Mann, der selbst in einer Brigade der Luhansker Separatisten dient, sprach von "16.000 unwiederbringlichen Verlusten".
Einen schaurigen Vergleich bietet ein Blick in die Vergangenheit. Während des neun Jahre dauernden Krieges in Afghanistan (1979-1989) wurden zwischen 14.000 und 26.000 Soldaten der Sowjetunion – darunter übrigens etwa 3.000 Ukrainer – getötet. Alleine in Awdijiwka könnten nun annähernd ebenso viele Russen ihre Leben verloren haben. Und das nur für eine von vielen zerbombten Städten entlang der Front.
Das sagt die Ukraine
Von der ukrainischen Seite heißt es von Brigadier Oleksander Tarnawski, dass die russische Armee über die vergangenen Monate alleine in Awdijiwka 47.000 "Verluste" hinnehmen habe müssen.
Achtung: in dieser Zahl sind höchstwahrscheinlich neben den Gefallenen auch Verletzte jedweden Grades inkludiert. In dieser Form wird es auch seit Beginn der Invasion vom ukrainischen Generalstab kommuniziert.
Dazu sprach der Ukraine-Offizier auch von hohen Verlusten unter den eingesetzten mechanisierten Verbänden der Russen. 364 Panzer, 248 Artilleriesysteme, 748 gepanzerte Truppentransporter und fünf Kampfflugzeuge seien während der Schlacht um die ostukrainische Stadt ausgeschalten worden.
Geordneter Rückzug
Zu den eigenen Verlusten macht die Ukraine keine Angaben, diese dürften ebenso beträchtlich sein. Geht es aber nach den russischen Militärbloggern, so sollen sie deutlich geringer sein als jene der russischen Armee. Unter anderem weil sich die Verteidiger zumeist mit ordentlichen Rückzügen zur nächsten Verteidigungsposition hätten zurückfallen lassen können. Auch der schlussendliche Abzug aus der Stadt sei annähernd geordnet verlaufen, da die russische Armee den Kessel nicht hatte schließen können.