ATACMS-Einsatz
Raketen gegen Putin – "Seiltanz über atomarem Abgrund"
Auf Washingtons OK für den Einsatz weitreichender Raketen gegen russisches Territorium folgen Drohungen aus Moskau. Doch der Druck wächst.
Militärhistoriker Roland Popp von der MILAK an der ETH Zürich mit Antworten auf Fragen zu den Entwicklungen in der Ukraine und in Russland.
Drei Tage nachdem Washington grünes Licht für ATACMS gab, droht Russland, die US-Botschaft in Kiew ins Visier zu nehmen. Die Amerikaner nehmen das ernst und evakuieren offenbar. Wann ist das das letzte Mal passiert?
Wir wissen nicht, worauf die Berichte beruhen. Doch sollten sie sich bestätigen, wäre das beunruhigend. Historisch gab es dies das letzte Mal 1999 im Kosovokrieg, als die USA die chinesische Botschaft in Belgrad beschossen hat – aus "Versehen", wie es damals hieß, doch das glaubt man in Peking bis heute nicht. Mit einem russischen Angriff auf die US-Botschaft in Kiew wäre jedenfalls eine neue Eskalationsstufe erreicht – aber eine unterhalb der Schwelle eines Angriffs gegen das eigentliche Territorium eines NATO-Staates. Es gibt Kräfte in Moskau, die auf Vergeltung drängen in Reaktion auf die ATACMS-Angriffe und Putin für seine Zurückhaltung kritisieren.
Was denken Sie, wie kam das OK für ATACMS in Washington zustande?
Das ist recht mysteriös und ich habe Widersprüchliches gehört und gelesen. Interessant wäre zu wissen, ob die Biden-Administration das Vorgehen mit den Trump-Leuten abgesprochen hat.
Und wenn?
In dem Fall wäre das dann wohl Teil der von Trump im Wahlkampf versprochenen Beendigung des Krieges noch vor seinem Amtsantritt. Was die militärische Lage angeht, ist die Bedeutung sekundär. Denn die Reichweite der von den USA bislang gelieferten Varianten ist begrenzt und habe zudem den "falschen" Gefechtskopf für diese Art von Einsatz. Es ist aber denkbar, dass die Absicht besteht, reichweitengesteigerte Munition zu liefern, aber selbst dann wird der Effekt überschaubar sein.
Was erwarten Sie hinsichtlich der weiter reichenden Raketensysteme aus Großbritannien und Frankreich? Müssen diese Länder ihre Botschaften in Kiew nun auch evakuieren?
Offenbar wurden die französisch-britischen Luft-Boden-Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow/SCALP jetzt tatsächlich gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet eingesetzt, nur die Italiener halten offenbar ihr Veto aufrecht. Allerdings verfügt die Ukraine nur über geringe Stückzahlen. Die Trägersysteme für die Waffen sind umgerüstete Suchoi-24 der ukrainischen Luftwaffe, davon sind viele zerstört. Die von der Presse so herausgestellten F-16 spielen noch überhaupt keine Rolle, scheint es. Zudem hat sich die russische elektronische Kampfführung auf die Marschflugkörper wie auch die ATACMs eingestellt. Sollten die Russen tatsächlich beabsichtigen, Botschaften anzugreifen, wären diejenigen der europäischen Staaten vermutlich noch mehr gefährdet. Aber bislang sind das nur Gerüchte.
ATACMS-Raketen haben offenbar die russische Region Brjansk beschossen. Ihr Einsatz ist also nicht auf Kursk beschränkt?
Fast unmöglich einzuschätzen. Letztlich ist es wieder eine Salami-Taktik. Ich denke, dass eine Einschränkung auf den Kursker Frontabschnitt nicht lange bestehen wird. An der sich abzeichnenden Niederlage der Ukrainer in Kursk wird das kaum etwas ändern, Russland ist auch dort schlicht zu überlegen.
Also ist die ATACMS-Freigabe irrelevant?
Nein, sie ist wichtig aufgrund des politischen Signals und die Russen haben in ihrer öffentlichen Kommunikation sehr empfindlich reagiert. Innerhalb Russlands wächst der Druck, sich angesichts der Unterstützung der NATO für Angriffe auf das eigene Territorium energischer zu widersetzen – trotz der dann rasant steigenden Gefahr einer nuklearen Konfrontation. Es gibt auch Stimmen im Westen, die glauben, man könne nur so einen russischen Sieg am Boden verhindern. Aber das wäre ein Seiltanz über dem atomaren Abgrund.
Bilder: Russischer Raketenangriff auf Dnipro
Die russischen Angriffe auf die Ukraine haben sich noch einmal verstärkt. Könnte ein Verbund von weiter reichender Waffen dies abschwächen?
Die Angriffe auf die Energieversorgung dienen dem Zweck, die Kriegsmüdigkeit der ukrainischen Bevölkerung zu verstärken, wirken sich aber auch generell auf die Verteidigungsfähigkeit des Landes aus. Bezüglich der weiter reichenden Waffen ermahne ich zur Rückschau auf die letzten drei Jahre und den immer wieder herbeigeredeten Wendepunkten durch irgendein neues Waffensystem: Leopardpanzer, Marschflugkörper, F-16. Warum man immer noch auf Experten hört, die in einem solchen Ausmaß daneben lagen, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel.
Aber eben: die Angriffe abschwächen – können das die verschiedenen weiter reichende Raketensysteme bewirken?
Nein. Der Beschuss der ukrainischen Infrastruktur erfolgt aus großer Distanz, dagegen gibt es im Grunde keine Abwehrmöglichkeit. Die ukrainische Luftabwehr ist stark abgenutzt und muss sich auf den Schutz militärischer Einrichtungen konzentrieren.
Die Bilder des Tages
Derzeit im Fokus der Userinnen und User von Heute.at im Ressort "Nachrichten" ist die aktuell meistgelesene Story "". Ist dir etwas aufgefallen oder hast du einen Input für uns, dann schreib uns ein Mail.
Auf den Punkt gebracht
- Washingtons Zustimmung zum Einsatz weitreichender ATACMS-Raketen gegen russisches Territorium hat zu Drohungen aus Moskau geführt, darunter die mögliche Zielsetzung der US-Botschaft in Kiew.
- Während die militärische Bedeutung der ATACMS begrenzt ist, signalisiert ihr Einsatz eine politische Eskalation, die den Druck auf Russland erhöht und die Gefahr einer nuklearen Konfrontation verstärkt.