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Nun ist auch Dornröschen unter Sexismus-Verdacht

Laut einer britischen Mutter sind Märchen wie Dornröschen nichts für Schüler, da sie frauenverachtend seien. Eine Schweizer Pädagogin stimmt zu.

Heute Redaktion
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Sarah Hall aus dem britischen Tyneside hat einen sechsjährigen Sohn. Als dieser mit einem Dornröschen-Bilderbuch aus der Schule kommt, macht sie ihrem Ärger über das ihrer Meinung nach sexistische Märchen auf Twitter Luft: Solange man solche Geschichten im Unterricht behandle, werde sich die Gesellschaft nie ändern. Den Tweet versah sie mit dem Hashtag #MeToo – in Anlehnung an den Belästigungs-Skandal in Hollywood.

Die Mutter sagt zur BBC, das Märchen vermittle eine falsche Botschaft. Weil der Prinz Dornröschen wachküsst, sei der Kuss nicht einvernehmlich: "Ich denke, in Dornröschen geht es auch um sexuelles Verhalten und Zustimmung. Diese Märchen sind bezeichnend dafür, wie tief verwurzelt dieses Verhalten in unserer Gesellschaft ist", so Hall.

"Die Märchen sind für Kinder nicht geeignet"

Während Halls Tweet teils gehässige Kommentare provozierte, erntet die Frau bei Schweizer Pädagoginnen und Feministinnen Beifall. Elisabeth Müller, Diplompädagogin und Lehrbeauftragte an der PH Zug, sagt: "Die Märchen transportieren patriarchale Geschlechterrollen, mit denen sich Kinder dann zu identifizieren versuchen. Sie passen darum nicht ins Kindesalter." In neueren Lehrmitteln der Unterstufe seien sie auch kaum mehr enthalten.

Laut Müller sind Frauen in den Märchen oft negativ dargestellt, als böse Stiefmütter oder Hexen, die sich von niederträchtigen Motiven wie Neid und Eifersucht leiten ließen und am Ende der Geschichte bestraft würden. "Männer hingegen werden am Ende nicht bestraft, selbst wenn sie sich an ihrer Tochter vergreifen wie im Grimm'schen Märchen 'Allerleirauh'."

Müller hatte bereits in den 80er-Jahren ein Buch geschrieben, in dem sie die Stellung der Frau in den Märchen analysierte. "Damals war das Thema neu. Ich sehe mit Genugtuung, dass man die Rollenbilder nun infrage stellt."

"Warum küsst nicht ein Prinz einen Prinzen wach?"

Auch Natalie Trummer, Geschäftsleiterin von Terre des femmes, sagt, die britische Mutter treffe den Nagel auf den Kopf: "Die Kritik an den Märchen und Kinderbüchern gibt es in feministischen Kreisen schon lange. Jetzt ist die Debatte einfach im Mainstream angekommen." Gerade in der Sammlung der Gebrüder Grimm würden oft frauenfeindliche Stereotype reproduziert – etwa, dass der Mann der Starke ist, der eine hilflose Frau retten muss, oder dass es nur die Ehe zwischen Mann und Frau gibt. Solche Stereotype seien letztlich verantwortlich für die sexuelle Gewalt und Unterdrückung der Frau in der Gesellschaft.

Leider würden die Märchen oft unkritisch weitergegeben. Besonders perfide sei, dass antiquierte Geschlechterrollen so schon ganz früh eingeimpft würden. Würden Märchen in der Schule behandelt, müsse man kritische Fragen stellen. "Eine Lehrerin könnte fragen, warum nicht ein Prinz einen Prinzen küsst oder eine Magd eine Prinzessin."

Für die Juso-Präsidentin Tamara Funiciello sind die Märchen nur ein Beispiel von vielen – wenn auch ein stoßendes. "Ob in den Märchen, den frühen Disney-Filmen, in der Werbung oder den Frauenmagazinen: Solche Muster sind überall. Sie beeinflussen unser Denken massiv." Mit Fug und Recht könne man kritisieren, dass im Märchen Schneewittchen die Männer unglaublich hart arbeiten, während Schneewittchen am liebsten zu Hause sei. Glücklicherweise finde aber ein Umdenken statt. Das zeigten Disney-Filme wie "Frozen", wo eine Königin die Heldin ist.

"Man beraubt Kinder eines Erlebnisses"

Juliette Wedl von Braunschweiger Zentrum für Gender Studies fände es falsch, würde man die Märchen in der Schule wegen des Frauenbildes zum Tabu erklären. Eine Erzählung könne als Ausgangspunkt genommen werden, um über die Geschlechterrollen zu diskutieren: "Statt der Utopie zu erliegen, Kinder unberührt von den Schattenseiten dieser Gesellschaft erziehen zu können, halte ich es für sinnvoller, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sie zu sensibilisieren."

Für Conchi Vega, Märchen-Erzählerin und Mitglied der Schweizerischen Märchengesellschaft, zählen Märchen zum Kulturgut. "Die Kinder erfahren, was Liebe, Hass, Eifersucht oder Freundschaft heißt." Halte man die Kinder von ihnen fern, beraube man sie eines Erlebnisses: "Meine Erfahrung ist, dass Kinder sich in die Heldenrolle des Märchens hineinbegeben und dies ihre Fantasie anregt."

Die feministische Kritik sei auf den ersten Blick verständlich. "Ja, es stimmt. Dornröschen gibt ihre Zustimmung zum Kuss nicht explizit." Eine Märchenerzählung funktioniert mit den Regeln der Bildsprache. "Märchen sind nicht wörtlich, sondern in einem übertragenen Sinn zu verstehen. Sie operieren mit starken Bildern, mit Symbolik." Auch Kinder seien in der Lage, zwischen einem Märchen und der Realität zu unterscheiden. (daw)