Tusk: "Ich übertreibe nicht"

"Neue Vorkriegszeit": NATO-Land legt alle Karten offen

Ein Krieg zwischen der Nato und Russland gilt als Horror-Szenario. Laut Polens Premier Donald Tusk sei Europa schon in einer "Vorkriegszeit".

Nicolas Kubrak
"Neue Vorkriegszeit": NATO-Land legt alle Karten offen
2010: In Donald Tusks (links) erster Amtszeit als Premierminister warnte er bereits vor den Gefahren einer engen Zusammenarbeit mit Russland, doch man zuckte mit den Schultern.
REUTERS

Anstoßpunkt für dieses kriegerische Zeitalter sei demnach der russische Angriffskrieg in der Ukraine vor über zwei Jahren gewesen. Ein größerer Konflikt sei daher nicht mehr ausgeschlossen, buchstäblich jedes Szenario sei möglich.

"Ich übertreibe nicht"

"Ich weiß, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation, aber wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat: die Vorkriegszeit. Ich übertreibe nicht, das wird jeden Tag deutlicher", sagte der polnische Premierminister zur "Welt am Sonntag" und europäischen Partnermedien. "Ich möchte niemandem Angst machen, aber Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit. Er ist real und hat schon vor über zwei Jahren begonnen", so Tusk.

Ich möchte niemandem Angst machen, aber Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit.
Polen-Premier Donald Tusk
warnt in einem Interview mit der "Welt am Sonntag" vor einem Krieg mit Russland

"Ein Pole, ein Russophober"

Am beunruhigendsten sei, dass aktuell buchstäblich jedes Szenario möglich sei: "Eine solche Situation haben wir seit 1945 nicht mehr erlebt". Der polnische Regierungschef erinnerte sich an ein Foto aus seiner Kindheit, das im Haus seiner Familie gehangen ist. Auf dem Foto vom 31. August 1939 sei der Strand in Sopot gewesen, darauf voller lachende Menschen. "Ein paar Stunden später begann fünf Kilometer entfernt der Zweite Weltkrieg", so Tusk.

"Wir müssen bereit sein", sagte der Politiker, angesprochen auf die polnischen Ausgaben für die Verteidigung. Er freue sich jedoch, dass "eine Revolution" in der europäischen Mentalität stattgefunden habe. "2009 wurde noch eine europäische Sicherheitsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok diskutiert. Als ich sagte, Russland sei ein Problem für Europa, kein Partner, zuckte man mit den Schultern: Klar, ein Pole, ein Russophober." Heute sei dies bereits ganz anders, die europäischen Hauptstädte würden wissen, "dass wir uns gemeinsam verteidigen müssen".

"Brauchen starkes Bündnis mit USA"

Laut Tusk müsse Europa noch mehr in Sachen Verteidigung investieren, da sei es auch "egal, ob Joe Biden oder Donald Trump" die Wahlen in den USA gewinnt. Eine "autarke" Verteidigungstaktik mache Europa nämlich zu einem "attraktiveren Partner" für die USA. Gleichzeitig warnte der polnische Premier, "wegen Trumps Politik oder antiamerikanischer Stimmung in einigen europäischen Ländern" das Militärbündnis mit den USA lockern oder auflösen zu wollen.

"Ich bin der Meinung, dass wir ein starkes Bündnis mit Amerika brauchen, aber gleichzeitig unabhängig und autark in der Verteidigung sein müssen. Unsere Aufgabe ist es, die transatlantischen Beziehungen zu pflegen, unabhängig davon, wer US-Präsident ist", sagte Tusk.

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