Kärnten
Mutiger Schritt mit 69 Jahren: Aus Hermine wurde Ulf
Schon mit fünf Jahren wusste Hermine R., dass sie im falschen Körper geboren ist. Mit 69 Jahren fasste sie den mutigen Entschluss und wurde zu Ulf.
Für Hermine R. stand schon früh fest, dass "ich nicht so bin wie die anderen Mädchen. Meiner Gefühlswelt nach war ich immer ein Bub. Ich hab' auch immer nur mit Buben gespielt. Und später in der Pubertät hab' ich mich zu Mädchen hingezogen gefühlt, auch mein erster Sex war mit einem Mädchen. Ich habe damals nicht der Norm entsprochen, alle haben mich in die lesbische Schublade gesteckt. Ich war immer unglücklich, weil ich mich nicht leben konnte", so der 69-jährige Villacher zu "Heute".
Hermine R. hatte eigenlich mit dem Thema schon abgeschlossen, doch dann lernte sie Edith W. kennen: "Ich dachte, für mich ist der Zug abgefahren, ich bin viel zu alt. Aber dann habe ich Edith Walzl vom Verein 'Insieme' getroffen. Ihre Tochter hat das Gleiche durchgemacht, ist jetzt ihr Sohn (19). Sie hat mich aufgeklärt, gut beraten und mich den ganzen Prozess hindurch begleitet. Ich bin froh, dass ich es gemacht habe", meint Ulf R., der am 18. November seinen 70. Geburtstag feiert.
„"Die ganz große OP lasse ich aus, da wären in meinem Alter zu viele Komplikationen möglich" - Ulf R. (69)“
Im April wurden ihm die Brüste entfernt, seit September 2020 benutzt er ein Testosteron-Gel: "Das streiche ich mir täglich auf die Schultern. Die Wirkung nach vier Tagen war wirklich unglaublich, der Sex ist hochgepusht worden. Auch der Bartwuchs hat nach sechs Monaten so richtig eingesetzt", erinnert er sich. Schließlich stand noch die Suche nach einem neuen Vornamen für die Personenstandsänderung im Melderegister an – und dieser war mit Ulf (altnordisch für Wolf, Anm.) rasch gefunden: "Der Wolf ist mein Leittier, hat mir immer Stärke gegeben. Ich bin ein richtiger Wolfsliebhaber. Mein erstes Buch war sogar 'Wolfsblut'", erklärt der gebürtige Oberösterreicher.
Mit der Masektomie (Entfernung der Brüste, Anm.) und dem Testosteron-Gel ist für Ulf R. die Geschlechtsumwandlung nun abgeschlossen: "Die ganz große Operation lasse ich aus, da wären in meinem Alter zu viele Komplikationen möglich. Zudem bin ich derzeit solo. Sollte ich eine Partnerin finden, gibt es noch die Möglichkeit einer Penis-Prothese – die wirken heutzutage sehr echt."
In der Pflegefamilie misshandelt und missbraucht
Ulf R. hat jetzt seinen Frieden gefunden: "Seelisch geht es mir sehr gut, ich ruhe in mir. Ich wünsche mir, dass das Leben so schön weitergeht – ohne Corona – und mir noch ein paar Jahre geschenkt werden." Und die hätte sich der 69-Jährige wahrlich verdient, denn er musste zahlreiche Schicksalsschläge erdulden.
Als Ulf – damals noch Hermine – 32 Tage alt war, wurde er seiner Mutter entzogen, mit sieben Monaten kam er zu einer Pflegefamilie: "Als ich etwa 2,5 oder drei Jahre alt war, begannen meine Pflegeeltern, mich körperlich zu misshandeln und sexuell zu nötigen. Die beiden waren totale Sadisten", erinnert er sich.
„"Alles wurde umgedreht. Ich wurde als Täterin, als Verführerin dargestellt" - Ulf R.“
Ulf kam in Heime für schwer erziehbare Kinder, Jahre später kam es zum Prozess, doch die Pflegeeltern wurden freigesprochen: "Alles wurde umgedreht. Ich wurde als Täterin, als Verführerin dargestellt." Auch im Heim gab es Probleme: "Mit 15 Jahren hab' ich zu einem anderen Mädchen gesagt: 'Ich möchte mit Männern nichts zu tun haben.' Sie hat das der Heimleitung verraten und ich wurde bei der Fürsorge angezeigt."
Mit 19 Jahren wurde Ulf aus dem Heim entlassen, die große Freiheit wartete: "Irgendwann wollte ich dann allein per Autostopp von Salzburg nach Linz. Ein Lkw-Fahrer hat mich mitgenommen und vergewaltigt. Ich wurde schwanger, meine Tochter wurde mir weggenommen und zur Adoption freigegeben", erinnert er sich.
Mit dem Verlust seiner Tochter wurde Ulf der Boden unter den Füßen weggezogen: "Ich bin ins Drogen- und Prostitutions-Milieu abgerutscht. Ich war süchtig nach Amphetaminen, Schlaftabletten und Alkohol. Ich war selbst kein Zuhälter, konnte mich aber in der Szene behaupten. Ich war mit vier bis sechs Frauen in Bars und Clubs unterwegs, hatte viele Raufereien. Ich war ein 'grader Michel' und das wurde akzeptiert", erklärt Ulf R.
Mit 42 Jahren gelang der Ausstieg aus der Prostitution
Nach 16 Jahren – mit 42 Jahren – gelang ihm schließlich der Ausstieg aus der Drogensucht und der Prostitution, ein Jahr später hielt er das erste Foto seiner Tochter Alexandra in der Hand: "Zehn Jahre später habe ich sie und ihre Adoptiveltern kennengelernt. Wir haben heute einen guten Kontakt, hören uns oft", erzählt der 69-Jährige.
„"Ich habe wie ein Berserker für missbrauchte Kinder gekämpft" - Ulf R.“
Danach ging es bergauf mit Ulf R. Er absolvierte eine Ausbildung zum Glaskünstler, setzte sich offensiv gegen Gewalt an Kindern ein, gründete eine Selbsthilfegruppe und erstellte sogar eine eigene Webseite: "Ich habe in dieser Zeit rund 100 Leute kennen gelernt und so viele Schicksale miterlebt. Ich habe wie ein Berserker für missbrauchte Kinder gekämpft."
Weil ihm die psychische Belastung zu viel wurde, beendete Ulf R. nach 24 Jahren schließlich seine Tätigkeiten. "Heute weiß ich, dass das eine Ablenkung von einem Missstand in mir war, dass zwei Seelen in meiner Brust gewohnt haben. Der Bub hat weitergelebt, das misshandelte Mädchen nicht."