Ukraine-Krieg

"Mordor existiert"! Kriegsgefangener enthüllt Horror

Menschenrechtler Maksym Butkewytsch saß mehr als zwei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Dort hat er die "Essenz der Gewalt" erfahren müssen.

Roman Palman
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    Maksym Butkewytsch im Oktober 2024 nach mehr als zwei Jahre aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt: <a data-li-document-ref="120083366" href="https://www.heute.at/s/ein-neuer-artikel-120083366">"Mordor existiert, und ich war dort"</a>.
    Maksym Butkewytsch im Oktober 2024 nach mehr als zwei Jahre aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt: "Mordor existiert, und ich war dort".
    Wikimedia/Олексій Арунян, "Ґрати" – CC BY-SA 4.0

    "Mordor existiert, und ich war dort", fasst Maksym Butkewytsch (47, ukr. Максим Буткевич) seine zwei Jahre und vier Monate in russischer Kriegsgefangenschaft zusammen. Der Kiewer Journalist und engagierte Menschenrechtsaktivist ist erst seit Oktober 2024 wieder in Freiheit, auch für ihn überraschend war er Teil eines größeren Gefangenenaustausches.

    In Mordor herrscht im "Herr der Ringe" das pure Böse: "Ich dachte immer, dass Mordor ein Ort in einem Fantasy-Buch ist. Das ist es nicht. Und ich verstehe jetzt, dass J. R. R. Tolkien diese Bücher während des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat und wieso er sie geschrieben hat", so der Ukrainer nun in einem Interview mit dem "Standard".

    Butkewytsch, eigentlich überzeugter Antimilitarist und Verfechter gewaltfreien zivilen Widerstands, hatte sich nach dem Einmarsch der Russen im Februar 2022 freiwillig zum Armeedienst gemeldet: "Als die Invasion begonnen hat, habe ich verstanden, dass es nun Zeit ist zu schützen, was wir schützen: Menschenrechte und zivile Freiheit. Es war völlig klar, dass das alles weg sein würde, wenn Russland dieses Land übernimmt."

    Bilder: Mutmaßliche Folterkammern der russischen Besatzer

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      Russische Besatzer sollen in der Ukraine systematisch Kriegsgefangene und Zivilisten gefoltert haben. Blick in eine ehemalige Polizeiwache in ...
      Russische Besatzer sollen in der Ukraine systematisch Kriegsgefangene und Zivilisten gefoltert haben. Blick in eine ehemalige Polizeiwache in ...
      IMAGO/ZUMA Wire/Byron Smith

      Selbst zur Waffe zu greifen, sei für ihn der einzige Weg gewesen, all das zu schützen: "Für mich war es eine Tragödie, dass ich ein Maschinengewehr in die Hand nehmen musste. Aber noch tragischer wäre es gewesen, es nicht zu tun."

      Wenn du Zeuge eines Verbrechens wirst und es beenden kannst, dies aber unterlässt, dann wirst du zum Komplizen. Du übst Gewalt aus, indem du Gewalt nicht verhinderst.
      Maksym Butkewytsch
      über seinen Armee-Eintritt in "Zeit Online", 30.12.2024

      Bald fand sich der damals eigentlich völlig unsportliche Zivilist als Offizier einer Einheit an der Ostfront in der Region Luhansk wider. Dort, etwa 40 Kilometer östlich von Bachmut und 25 Kilometer südlich von Lyssytschansk, wurde er schließlich am 21. Juni 2022 zusammen mit weiteren Soldaten in eine Falle gelockt und gefangen genommen.

      BILDSTRECKE: Schlacht um Bachmut

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        Bilder von der Schlacht um Bachmut im Osten der Ukraine, 2022.
        Bilder von der Schlacht um Bachmut im Osten der Ukraine, 2022.
        Libkos / AP / picturedesk.com

        Systematische Folter

        Als Gefangener auf dem Gebiet der sogenannten Luhansker Volksrepublik erlebte er Schreckliches und Überraschendes: "Ich habe erwartet, dass es brutal ist. Und es war mir auch klar, dass Menschenrechte für dieses System nicht existieren. Ich habe aber nicht erwartet, dass es so offen, zynisch und ignorant gegenüber internationalem Recht ist. Ich habe Misshandlungen erwartet. Ich habe aber nicht erwartet, dass alle Kriegsgefangenen systematischer Folter ausgesetzt würden." Die Genfer Konvention habe für diese Leute "einfach nicht existiert".

        Gleichzeitig würde sich das System wie schon zu Stalins Zeiten mit widersinnig erscheinenden Formalien selbst legitimieren. Gegen ihn wurde ein Strafverfahren auf Basis erfundener Anschuldigungen eingeleitet. Butkewytsch: "Es ergibt keinen Sinn. Wieso würden sie genau all das machen, was man in den 1930ern gemacht hat? All diese Scheingerichte? Und all das existiert in massivem Ausmaß."

        "Wir waren nur ihr Job"

        Nicht alle Wärter seien mit Folter und Scheinprozessen einverstanden gewesen, hätten ihn und die anderen Gefangenen irgendwann sogar wieder human behandelt: "Sie hatten das Bild von blutrünstigen Neonazis vor sich, die alle Russen töten und deren Kinder zum Frühstück essen wollen. Aber nach einiger Zeit sehen sie sie jeden Tag und merken: Das sind ganz einfache Typen, die halt kämpfen mussten. Wieso, das haben sie nie verstanden. Sie dachten, wir wurden gezwungen von diesem bösen ukrainischen Staat", schildert der 47-Jährige im "Standard"-Gespräch.

        Auf der anderen Seite standen vor allem jene, die schon ab 2014 gegen die Ukraine gekämpft hatten: "Die haben eine sehr negative Haltung und extrem erniedrigende Praktiken an den Tag gelegt. Das waren Einheimische." Auch jene Russen, die etwa sein Strafverfahren konstruiert hätten, hatten keinerlei emotionale Bindung: "Manche waren besser, manche schlechter. Wir waren nur ihr Job. Wir mussten eben diese Geständnisse unterzeichnen, und wir mussten dazu gezwungen werden" – wenn nötig mit Gewalt.

        BILDER: So zerstört ist Ukraine-Frontstadt Wuhledar

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          Eines der letzten verfügbaren Satellitenbilder vor dem Fall: Die Frontstadt <strong>Wuhledar</strong> in der Oblast Donezk am 29. September 2024.
          Eines der letzten verfügbaren Satellitenbilder vor dem Fall: Die Frontstadt Wuhledar in der Oblast Donezk am 29. September 2024.
          Planet Labs Inc. via REUTERS

          Die wahre Essenz der Gewalt

          Russische "Ermittler" hätten ihm unter Schlägen drei Optionen zur Wahl gestellt: "Entweder unterzeichne ich ein Geständnis, werde für Kriegsverbrechen verurteilt und ausgetauscht. Oder ich weigere mich. Dann würden sie mich erschießen. Die dritte Option war, dass ich im Gefängnis bleibe und sie mein Leben zur Hölle machen würden. Sollte ich irgendwann freikommen, wäre ich nicht mehr ich, sondern ein kaputtes Spielzeug." Butkewytsch unterschrieb.

          Sie brauchten schnellstens viele verurteilte ukrainische Kriegsverbrecher für einen Austausch. Erst später konnte ich meine Akte lesen. Ich war amüsiert darüber, wie schlecht das Szenario war.
          Maksym Butkewytsch
          über die russischen Anschuldigungen gegen ihn in "Zeit Online", 30.12.2024

          Während der Wochen und Monate in Zellen und Straflager habe er bemerkt, was wirklich hinter der systemischen Gewalt der Russen stecke: "Wir denken, Gewalt wolle zerstören, dass es ums Töten oder Verletzen geht. Es ist eine Folge der Gewalt, nicht ihre Essenz. Bei Gewalt geht es darum, Menschen zu entmenschlichen, indem man mit ihnen wie mit seelenlosen Dingen umgeht. Lebende Wesen sollen in etwas Unlebendiges verwandelt werden", konstatiert der Menschenrechtler in einem weiteren Interview mit der "Zeit". Es sei immer um Enthumanisierung gegangen: "Und genau darin steckt das pure Böse."

          Kriegspropaganda setzt, auf allen Seiten, immer auch auf Enthumanisierung des Gegners. Ukrainer bezeichnen die russischen Invasoren, analog zu Butkewytschs Mordor-Metapher, verbreitet als "Orks". In der russischen Erzählung sind wiederum Ukrainer angebliche Neonazis.

          "Alles ist finsterer geworden"

          Überraschungen erlebte der 47-Jährige auch nach seiner Freilassung: Er habe Sorge gehabt, in eine rohere Ukraine zurückzukehren, in der in Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechte alles nur noch schwarz-weiß gesehen würde, doch stattdessen seien Zivilgesellschaft und das kulturelle Leben aufgeblüht.

          "Dieses Land ist heute härter und ärmer. Aber für viele Menschen hat das Leben einen neuen Wert bekommen, und die Menschen behandeln einander anders. Weil wir alle verletzlich geworden sind", sagt der Heimkehrer: "Zugleich ist alles finsterer geworden. Fast jeder hat jemanden verloren."

          Auch die Kriegsmüdigkeit sei da, aber nicht in dem Ausmaß, in dem er befürchtet habe. Er selbst wolle nun helfen, weitere Gefangene aus den besetzten Gebieten zu befreien, und gegen die internationale Ukraine-Müdigkeit anzukämpfen: "Diejenigen, die finden, dass der Krieg enden müsse, egal, unter welchen Bedingungen, werden mehr. Das ist so, so falsch!"

          "Wir kämpfen um viel mehr"

          Seine Botschaft ist so dramatisch wie eindeutig: "So viel steht auf dem Spiel! Als mich die Soldaten auf dem Weg nach Luhansk filmten, sagten sie: 'Wenn die Ukraine-Phase vorbei ist, dann haben wir die kampferprobteste Armee in Europa, vielleicht sogar in Eurasien, die immer weiter voranschreiten wird.' Ich fragte sie, bis wohin sie voranschreiten wollen. Bis Polen, bis ins Baltikum? 'Warum sollten wir uns auf Polen beschränken?', antworteten sie."

          Genfer Konvention und Menschenrechte seien ihnen völlig egal, das habe er in Gefangenschaft mit eigenen Augen gesehen. "Wir kämpfen nicht nur um unsere Ukraine, sondern um viel mehr. Ich fürchte, viele wissen das nicht. Deshalb teile ich meine Geschichte."

          Die Bilder des Tages

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            18.01.2025: Wiener Linien zahlen dir 500 € im Monat fürs Öffifahren. Die Wiener Linien starten ein neues Projekt, um das Öffi-Verhalten zu erforschen. Dafür werden jetzt Haushalte werden dafür ausgewählt. >>>
            Getty Images

            Auf den Punkt gebracht

            • Maksym Butkewytsch, ein ukrainischer Journalist und Menschenrechtsaktivist, berichtet in mehreren Interviews über seine zweijährige russische Kriegsgefangenschaft.
            • Trotz systematischer Folter und unmenschlicher Behandlung betont er die Wichtigkeit des Kampfes für Menschenrechte und Freiheit und warnt vor den weitreichenden Gefahren der russischen Aggression.

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