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"Die Morandi-Brücke ist ein Versagen der Technik"
Der Einsturz der Brücke in Genua sei eine angekündigte Tragödie, behauptet ein Experte. Nun missbrauchen Politiker das Unglück für ihre politischen Zwecke.
Zwei Jahre vor der Tragödie in Genua, bei der mindestens 35 Menschen ums Leben kamen, hatte ein Experte in Stahlbetonkonstruktionen gewarnt. "Diese Brücke ist aus Sicht der Ingenieurswissenschaft ein Fehler. Früher oder später muss sie ersetzt werden", sagte Antonio Brencich, Professor an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften der Uni Genua in einem Interview im Juli 2016 mit dem Fachportal "Ingegneri.info".
Die Kosten der Unterhaltsarbeiten der Autobahnbrücke würden bereits seit Ende der 1990er Jahre 80 Prozent der Baukosten der Brücke betragen, erklärte damals Professor Brencich. "Es ist der Moment gekommen, in dem diese Kosten teurer werden als ein Neubau." Die Brücke weise "offensichtliche Zerfallserscheinungen" auf, so der Ingenieur.
Bauarbeiten waren im Gange
Tatsächlich waren an der eingestürzten Autobahnbrücke zum Zeitpunkt des Unglücks Bauarbeiten im Gange. Wie die Betreibergesellschaft Autostrade per Italia am Dienstagnachmittag auf ihrer Website mitteilte, sei an der Sohle des Polvecera-Viadukts gerade gearbeitet worden. Auf der Brücke selber habe ein Baukran gestanden.
"Oh mein Gott!" – Video zeigt, wie die Brücke einstürzt
Quelle: Tamedia/Facebook/Davide Di Giorgio
Der Zustand der Brücke sowie der Fortgang der Renovierung seien immer wieder kontrolliert worden. Erst wenn ein gesicherter Zugang zur Unfallstelle möglich sei, könne Näheres über die Ursachen des Einsturzes gesagt werden, teilte das Unternehmen weiter mit.
Jetzt mischen sich die Politiker ein
Auf Social Media wird nun das Unglück für politische Zwecke missbraucht. Einer der ersten Politiker, der sich zu Wort meldete, war der Abgeordnete Claudio Borghi von der rechtsextremen Lega: "Die Tragödie von Genua erinnerhalb uns daran, dass die öffentlichen Gelder für alle da sind. (...) Jahrelang hat man Unterhaltsarbeiten vernachlässigt, weil angeblich das Geld fehlte. Zuerst kommt die Sicherheit der Italiener", schrieb er.
Vizeverkehrsminister Eduardo Rixi, ebenfalls Mitglied der Lega-Partei, forderte im Interview mit dem Fernsehsender "Sky TG24" Ermittlungen, um die "Verantwortlichen ausfindig zu machen": "Eine solche Brücke stürzt nicht wegen eines Blitzschlags oder eines Sturms ein."
Kurz zuvor hatte sich Massimo Baroni von der populistischen Cinque-Stelle-Bewegung geäußert: "Eine unglaubliche Nachricht. Das kann eine Nation wie Italien nicht einfach so hinnehmen. Nein zu den großen nutzlosen Bauprojekten, wenn man zuerst die bereits existierenden Bauten sichern muss."
Luciano Nobili, Abgeordneter der früheren linken Regierungspartei Partito Democratico, antwortete Baroni via Twitter: "Die Regierenden missbrauchen dieses Unheil, um politische Propaganda zu betreiben. Schakale ohne jede Würde."
Die Brücke galt als Meisterwerk der Architektur
Der jüngste Einsturz ist eines der schwersten Brückenunglücke in Italien seit Jahren. Die Infrastruktur des Landes ist nach jahrelanger Wirtschaftskrise stellenweise stark überholungsbedürftig. Im März vergangenen Jahres starb ein Paar, als bei Ancona an der Adriaküste eine über eine Autobahn führende Brücke auf ihr Auto stürzte. Im Oktober 2016 wurde ein Rentner in seinem Auto auf einer Schnellstraße zwischen Mailand und Lecco von Brückenteilen tödlich getroffen.
Der "Viadotto Polcevera" war nach vierjähriger Bauzeit 1967 vom damaligen Staatspräsidenten Giuseppe Saragat eröffnet worden. Die vom italienischen Ingenieur Riccardo Morandi (1902-1989) entworfene elegante Schrägseilbrücke gilt als ein Meisterwerk der Architektur des 20. Jahrhunderts. Der 1.182 Meter lange Viadukt wird von 90 Meter hohen Pylonen – drei davon mit Schrägseilen – gestützt.
Der Viadukt überquert ein Industriegebiet auf einer Höhe von 45 Metern und stützt sich auf drei Betonpfeiler. Das längste Teilstück ist 210 Meter lang. (kle/20 Minuten)