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Militärexperte hat "so einen Angriff noch nie gesehen"
Ein Militärexperte klärt auf, ob der Angriff auf Israel der Anfang eines neuen Krieges ist und was die "Militäroperation" der Hamas wirklich bedeutet.
Am Samstagmorgen kam es zu massiven Raketenangriffen aus dem Gazastreifen auf Israel. Gleichzeitig drangen Hamas-Kämpfer über die Grenze in israelische Gebiete vor. Durch den Angriff kam es zu mehreren Toten und Verletzten. Die islamistische Hamas erklärte den Beginn einer "Militäroperation" gegen Israel – das angegriffene Land rief kurz daraufhin den Kriegszustand aus.
Michel Wyss ist wissenschaftlicher Assistent an der Militärakademie der ETH Zürich und beschäftigt sich in seiner Forschung unter anderem mit irregulärer Kriegsführung.
„Herr Wyss, was bedeutet die Eskalation im Nahen Osten?“
Es hat zwischen Israel und den bewaffneten Gruppen im Gazastreifen in der Vergangenheit wiederholt bewaffnete Konflikte gegeben. So einen Angriff haben wir aber noch nie gesehen – diese Eskalation ist eine großangelegte Operation.
„Inwiefern?“
Der Angriff am Samstagmorgen folgte offenkundig einer militärischen Logik von Überraschung und Täuschung. Es ist ein koordinierter Angriff, der allem Anschein nach von langer Hand geplant gewesen sein dürfte. Das war keine spontane Gewalteskalation. Der Raketenangriff dürfte zur Ablenkung gedient haben, zugleich führte die Hamas eine massive Infiltration im Süden Israels durch. Eine ähnliche Vorgehensweise wurde von der libanesischen Hisbollah 2006 im nördlichen Grenzbereich angewendet, dies war der Auslöser des damaligen zweiten Libanonkriegs. Scheinbar haben die Gruppierungen in Gaza diese Taktiken kopiert.
„Weshalb greift die Hamas jetzt an?“
Schwierig zu sagen. Aber, dass sich der Kippur-Krieg zum fünfzigsten Mal jährt und Israel gerade "Simchat Tora" feiert, scheint mir mehr als nur ein Zufall zu sein. Auch der Krieg damals hatte mit einem Überraschungsangriff und einem Schock für Israel begonnen.
„Wie wird Israel nun reagieren?“
Es ist davon auszugehen, dass Israel massiv reagieren wird. Als Erstes wird Israel versuchen müssen, die Gefahr im Süden so schnell wie möglich zu neutralisieren. Laut eigenen Angaben sind Kämpfer der Hamas und weiterer Gruppierungen noch immer dabei, israelische Geiseln in den Gazastreifen zu transportieren, darunter Zivilisten und Soldaten und sowohl Männer als auch Frauen. Die israelische Luftwaffe führt bereits Luftangriffe gegen Ziele im Gazastreifen durch, um Hamas und weitere Gruppierungen in die Defensive zu drängen und sie andererseits von einer weiteren Eskalation abzuschrecken.
„Und wie geht es dann weiter?“
Es ist anzunehmen, dass Israel eine militärische Bodenoperation in Gaza durchführen wird, um die militärische Infrastruktur der Hamas und anderer Gruppen auszuschalten und um israelische Geiseln zu befreien. Letzteres ist natürlich mit hohen Risiken und Gefahren verbunden.
„… um die Hamas aus dem Gazastreifen zu vertreiben?“
Das ist letztlich ein strategisches Dilemma für Israel. Die Hamas ist Machthaberin im Gazastreifen und galt zuletzt als einigermaßen berechenbar. Bisher ging man in Israel davon aus, dass die Hamas nicht ihre eigene Machtbasis durch eine massive Konfrontation mit Israel gefährden würde. Beim letzten Gewaltausbruch im vergangenen Mai beteiligte sich die Hamas nicht an den Raketenangriffen und dementsprechend nahm Israel damals auch keine Hamas-Ziele ins Visier.
„Die Hamas hielt sich damals also zurück?“
Ja, und die Nichtbeteiligung der Hamas erscheint nun auch in einem anderen Licht. Möglicherweise waren damals bereits Vorbereitungen für den jetzigen Angriff im Gange. Für Israel ist die Hamas zwar ein Feind, aber einer, bei dem man annahm, dass man ihn durch periodische Abschreckung kontrollieren beziehungsweise managen könne. Diese Alternative galt in Israel als besser als jene eines Machtverlusts der Hamas, welche Chaos und ein Machtvakuum in Gaza zur Folge hätte.
„Es scheint, als wäre Israel beim aktuellen Angriff völlig überrumpelt worden.“
Offenbar hatten Sicherheitskreise den Angriff tatsächlich nicht kommen sehen, möglicherweise weil man schlicht nicht davon ausging, dass die Hamas eine Eskalation suchen würden. Hier zeigen sich weitere Parallelen mit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973. Genau wie damals dürfte der heutige Angriff umfassende Konsequenzen mit sich bringen, sowohl auf militärischer, nachrichtendienstlicher als auch politischer Stufe.