"Die Lage ist ernst"

Militär-Experte erwartet "Hiobsbotschaften" aus Ukraine

Der österreichische Analyst Franz-Stefan Gady sieht die russische Armee derzeit in der besseren Position. Die Ukrainer kommen immer mehr unter Druck.

Roman Palman
Militär-Experte erwartet "Hiobsbotschaften" aus Ukraine
Ein russisches Artilleriegeschütz beim Abfeuern von Flugzettel-Granaten auf ukrainische Stellungen. Jede beinhaltet rund 500 Blatt Propagandaplakate, die zur Kapitulation auffordern. Screenshot aus einem Video des russischen Verteidigungsministeriums.
IMAGO/ITAR-TASS

Die russischen Invasionstruppen sind langsam aber beständig auf dem Vormarsch. Der neue ukrainische Armee-Chef Olexander Sirski musste nun sogar den taktischen Rückzug aus der seit Monaten heftig umkämpften Stadt Awdijiwka befehlen. Zu groß wurde die Gefahr, dass die Verteidiger in einem Kessel eingeschlossen würden.

"Die Lage ist tatsächlich ernst", warnt Militär-Experte Franz-Stefan Gady mit Blick auf die ukrainische Front in einem am Samstag veröffentlichten Interview mit "T-Online". Die Situation ist prekär: Die ukrainische Armee wird derzeit von chronischem Munitionsmangel gehemmt, es fehlt an Soldaten. Währenddessen hat die russische Armee immer noch eine Feuerüberlegenheit bei der Artillerie von etwa zehn zu eins.

Verteidigungs-Experte <strong>Franz-Stefan Gady</strong> während eines früheren Auftritts in einer "ZIB2 Spezial" im ORF.
Verteidigungs-Experte Franz-Stefan Gady während eines früheren Auftritts in einer "ZIB2 Spezial" im ORF.
Screenshot ORF

Einen Kollaps der ukrainischen Frontlinien befürchtet der Analyst aber nicht, denn die Russen hätten etwa während Sommeroffensive 2022 deutlich mehr an Feuerkraft aufgefahren, aber keinen Durchbruch geschafft. Auch jetzt habe keine der beiden Seiten einen entscheidenden Vorteil. Gady: "Ich glaube aber nicht, dass wir den Zeitpunkt erreicht haben, an dem die Ukraine unmittelbar vor dem Zusammenbruch steht."

Denn die Russen hätten ebenso mit großen Herausforderungen in ihrem eigenen Armee-Apparat zu kämpfen. "Ihnen fehlen oftmals moderne Ausrüstung und Ausbildung, die Kampfkraft erschlafft mancherorts, und sie begehen nach wie vor viele taktische Fehler", so der Südsteirer weiter. "Schwarzmalerei ist also trotz russischer Vorstöße nicht angebracht."

Er rechnet mit weiteren Offensiven der Kreml-Truppen in der Gegend um Kupjansk in der Oblast Charkiw, Awdijiwka und im Süden im Raum Robotyne. Unklar sei noch, wie der neue Armee-Chef an diesen Frontabschnitten handeln wird: Schickt er weitere Truppen? Befiehlt er wie bei Awdijiwka einen taktischen Rückzug, um sich anderorts neu zu formieren?

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In letzterem sieht der Militärexperte deutlich mehr Chancen für die Ukrainer: "Sollte die Entscheidung getroffen werden, die Front so zu halten, wie sie sich aktuell darstellt, dann würden die ukrainischen Verluste wahrscheinlich massiv ansteigen." Die Ukraine wäre nämlich zu Gegenangriffen auf die mittlerweile gefestigten Stellungen der Russen reagieren, doch das wäre "konträr zur Gesamtstrategie", sagt er: "Besser wären auch dort taktische Rückzüge."

Neue Mobilisierungswelle "unumgänglich"

Der Grund: die eingesetzten Armeeverbände sind schwer angeschlagen. Ukrainische Infanterieeinheiten an der Front hätten inzwischen nur mehr 20 bis 30 Prozent ihrer Sollstärke. "Der Personalmangel wird immer akuter, und eine neue Mobilisierungswelle ist eigentlich unumgänglich", mahnt Kriegsbeobachter Gady.

Für das Jahr 2024 sei deshalb ein deutlich defensiveres Vorgehen der ukrainischen Armee Gebot der Stunde, um die eigenen Streitkräfte zu schonen, auszubauen und neu zu strukturieren. Gleichzeitig müsse der Druck auf die Invasoren mit Langstreckenwaffen und Drohnen aufrecht erhalten werden, um der Gegenseite deutlich höhere Verluste zuzufügen, als die Ukrainer selbst erleiden. "Ende des Jahres oder Anfang 2025" könnte dann neuerlich eine großangelegte Offensive folgen.

Die Umgebung von Awdijiwka ist vom Dauerfeuer der Artillerie völlig verwüstet.
Die Umgebung von Awdijiwka ist vom Dauerfeuer der Artillerie völlig verwüstet.
Ukrainian 110th mechanized brigade via AP / AP / picturedesk.com

Gelingt das, könnten sie aus dem Stellungskrieg wieder in einen Bewegungskrieg wechseln. Dabei wäre die Ukraine nämlich wieder im Vorteil: "Ihre Soldaten sind insgesamt besser ausgebildet als die russischen, und die ukrainische Einsatzdoktrin ist meines Erachtens besser geeignet", so Gadys Einschätzung.

Ukraines Präsident Wolodimir Selenski posiert vor dem Schild "Awdijiwka ist ukrainisch" in Awdijiwka am 29. Dezember 2023.
Ukraines Präsident Wolodimir Selenski posiert vor dem Schild "Awdijiwka ist ukrainisch" in Awdijiwka am 29. Dezember 2023.
HANDOUT / AFP / picturedesk.com

Nächsten Monate "sehr kritisch"

Ein mögliches Ausbleiben von US-Hilfslieferungen – Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat auf Kuschelkurs zu Wladimir Putin eingeschwenkt – könnte allerdings durchaus einen Kollaps der ukrainischen Frontlinien zur Folge haben. "Ich halte diese Wahrscheinlichkeit zwar derzeit für niedrig, unmöglich ist es aber nicht", sagt Gady. 

Die nächsten Monate würden jedenfalls "sehr kritisch" werden, eine Adaptierung der ukrainischen Streitkräfte an die akuten Probleme unbedingt notwendig: "Ich erwarte eine Reihe von militärischen Hiobsbotschaften. Dennoch glaube ich nicht, dass die russische Armee die Fähigkeit hätte, das ganze Land oder noch größere Teile zu besetzen". 

Russische Soldaten auf einem BMP-3 mit aufgesetzter Käfigpanzerung, scherzhaft im Englischen auch "cope cages" genannt.
Russische Soldaten auf einem BMP-3 mit aufgesetzter Käfigpanzerung, scherzhaft im Englischen auch "cope cages" genannt.
IMAGO/SNA

"Den Amerikanern klarmachen, dass..."

Dank der inzwischen massiv angekurbelten Munitionsproduktion in Europa sollte die Ukraine aber ab der zweiten Jahreshälfte immer besser aufgestellt sein: Schon allein damit könnte laut dem Analysten ab etwa Jahresende eine defensive Strategie aufrechterhalten werden – sogar ohne Hilfen aus den USA.

Gady abschließend: "Die Europäer haben einen guten Ansatz. [...] Ich denke, man muss da weitermachen, wo man schon begonnen hat. Und den Amerikanern immer wieder klarmachen, dass die Ukraine nicht nur für Europa kämpft, sondern für die gesamte regelbasierte internationale Ordnung."

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