Wien
Kinder aus Platzmangel früh aus Psychiatrie entlassen
Trotz steigendem Bedarf, hänge das Angebot jugendpsychiatrischer Betreuung in Wien stark nach, warnt das Netzwerk Patientenanwaltschaft.
Im März ließ eine Studie von Donau-Universität Krems und Medizinischer Universität Wien mit einem erschreckenden Ergebnis aufhorchen: Demnach haben 16 Prozent der österreichischen Schülerinnen und Schüler suizidale Gedanken, mehr als die Hälfte leidet unter depressiven Symptomen. Durch die Coronakrise und dem damit verbundenen Home Schooling, Social Distancing und der Lockdowns, habe sich „die Häufigkeit depressiver Symptome, Angstsymptome aber auch Schlafstörungen mittlerweile verfünf- bis verzehnfacht, Tendenz steigend. Die Ergebnisse sind besorgniserregend", warnte Studienleiter Christoph Pieh von der Donau-Universität Krems.
Scharfe Kritik an "massivem Versorgungsmangel"
Dennoch hänge das Angebot an jugendpsychiatrischer Versorgung – auch in Wien – noch immer stark nach, warnt nun das Netzwerk Patientenanwaltschaft. Die Patientenanwälte bei VertretungsNetz stehen allen Menschen zur Seite, die aufgrund einer akuten Krise auf einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses aufgenommen werden müssen. Darunter sind auch immer mehr Kinder und Jugendliche.
Im Zeitraum von 1. Jänner und 31. Mai 2021 vertrat das Netzwerk 241 Jugendliche. 230 Jugendliche waren in diesem Zeitraum auf einer psychiatrischen jugend- bzw. transitionspsychiatrischen Station (da werden Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 25 Jahren mit einem spezifischen Angebot im Rahmen der Erwachsenenpsychiatrie betreut, Anm.), weitere 11 waren auf einer psychiatrischen Allgemeinstation gemeinsam mit Erwachsenen.
Immer mehr Jugendliche auf Erwachsenenpsychiatrie
Der Bettenmangel in der Jugendpsychiatrie führe dazu, dass immer öfter Jugendliche auf Erwachsenenstationen müssen. Das sorgt beim Netzwerk Patientenanwaltschaft für scharfe Kritik. "Minderjährige finden auf der Erwachsenenpsychiatrie weder eine altersadäquate Betreuung noch ein pädagogisches Angebot", erklärt die Bereichsleiterin der Patientenanwaltschaft für Wien und Niederösterreich-Ost Rita Gänsbacher.
"Kinder und Jugendliche, die eine Behandlung auf einer psychiatrischen Abteilung brauchen, befinden sich ohnehin bereits in einem psychischen Ausnahmezustand. Therapien und Freizeit unter Gleichaltrigen zu verbringen, ist der einzig vertretbare Weg zurück in die Normalität. Der enge Kontakt mit psychisch erkrankten, zwangsweise untergebrachten Erwachsenen hingegen kann für die jungen Patienten irritierend bis massiv belastend sein", warnt sie.
"Jugendliche werden zu früh entlassen, um Platz zu schaffen"
Der akute Platzmangel – laut Angaben des Wiener Gesundheitverbundes gibt es in Wien für Kinder und Jugendliche in Wien derzeit 88 Betten auf einer psychiatrischen Station sowie 22 tagesklinische Plätze, das Netzwerk hält hingegen zumindest rund 190 Betten für nötig – führe auch dazu, dass in Wien Jugendliche immer öfter zu schnell entlassen werden, um die knappen Betten auf der Jugendpsychiatrie wieder neu belegen zu können. "Die durchschnittliche Unterbringungsdauer betrugt im Zeitraum von Jänner bis Mai 2021 9,8 Tage. Diese Zahl sinkt, bedingt durch den Bettendruck, von Jahr zu Jahr", so Gänsbacher gegenüber "Heute".
„"Die durchschnittliche Unterbringungsdauer sinkt von Jahr zu Jahr".“
Rita Gänsbacher, Bereichsleiterin der Patientenanwaltschaft für Wien und Niederösterreich-Ost
Allein im Mai habe die Patientenanwaltschaft acht Jugendliche vertreten, die nach nur wenigen Tagen wieder entlassen wurden– ohne nachhaltige jugendpsychiatrische Behandlung. "Im schlimmsten Fall sehen wir diese Jugendlichen am gleichen Tag nach einem Suizidversuch wieder", so Gänsbacher. Dadurch würden die Jugendlichen länger in der gefährlichen Akutsituation verharren, gleichzeitig schwinden die Chancen auf Heilung.
Seitens des Wiener Gesundheitverbundes will man das nicht so stehen lassen, man setze niemanden einfach vor die Tür: "Eine stationäre Aufnahme an einer Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein großer Einschnitt im Leben der jungen Patientinnen und Patienten. Um die Belastung so gering wie möglich zu halten, bleiben sie nur so lange stationär wie nötig", wird gegenüber "Heute" betont. Die Entlassung werde mit den Patienten und den Erziehungsberechtigten besprochen und falls nötig, jedenfalls eine ambulante Weiterbehandlung angeboten.
Forderung nach Ausbau von Kassenordinationen und Ausbildungsplätzen
Auch wenn die Stadt Wien in den vergangenen Jahren zusätzliche Betten für Kinder und Jugendliche, etwa in den Kliniken Hietzing und Floridsdorf oder am AKH Wien (Alsergrund) geschaffen habe, reichten die Kapazitäten bei weitem nicht aus, warnt Gänsbacher. Auch bei den Kassenordinationen gebe es noch viel Aufholbedarf: "In Wien gibt es derzeit sechs Kassenordinationen für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dabei bräuchte es in einer Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern laut Schätzungen von Experten mindestens viermal so viele", so die Patientenanwältin.
„"In Wien gibt es derzeit nur sechs Kassenordinationen, trotz fast zwei Millionen Einwohnern".“
Rita Gänsbacher, Bereichsleiterin der Patientenanwaltschaft für Wien und Niederösterreich-Ost
Sie fordert daher einen raschen Ausbau, nicht nur bei Kassenärzten, sondern auch bei der Ausbildung neuer Psychotherapeuten. Es sei völlig unverständlich, warum die österreichische Gesundheitskasse nicht endlich zusätzliche Kassenordinationen für Kinder- und Jugendpsychiatrie genehmigt. "Die meisten Familien können sich die hohen wahlärztlichen Honorare von 150-200 Euro pro Stunde nicht leisten. Auch Psychotherapieplätze gibt es viel zu wenige".
Dabei könnten viele Spitalsaufenthalte durch ein ausreichendes Angebot vermieden werden, ist sich Gänsbacher sicher. "Viele junge Patientinnen und Patienten erzählen uns, dass sie sich vor der Unterbringung monatelang erfolglos um eine psychiatrische Behandlung bei einem Arzt oder einer Ärztin bemüht haben – bis es dann zum psychischen Zusammenbruch kam".
Stadt stockte mit "Home Treatment" auf
Bei dem Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien Ewald Lochner, rennt Gänsbacher mit ihrer Forderung nach mehr Kassen-Psychiatern offene Türen ein. Schon 2019 nahm Lochner im "Heute"-Interview die Sozialversicherungen in die Pflicht. Die Forderung ist geblieben, bis zum Jahr 2030 will er in Wien insgesamt 24 Kassenplätze.
„"Wir müssen dringend in der Ausbildung ansetzen. Der Ausbildungsschlüssel müsse an das Interesse angepasst werden".“
Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien
"Die Coronakrise hat den Mangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verstärkt. Wir dürfen keinesfalls bei der psychischen Gesundheit der Jüngsten sparen und müssen das vielfältige Angebot weiterausbauen. Eine wichtige Maßnahme ist der Ausbau der multiprofessionellen Ambulatorien und der niedergelassenen Kassenärztinnen und Kassenärzte – sowohl zur weiteren Entlastung, aber auch zur Prävention. Zudem müssen wir auch dringend in der Ausbildung ansetzen", so Lochner gegenüber "Heute". Das Interesse am Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei da, doch der Ausbildungsschlüssel müsse hier angepasst werden, damit genügend Fachärzte ausgebildet werden können.
Die Stadt Wien setzt in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen auf die enge Zusammenarbeit von stationären und ambulanten Angeboten und auf den Ausbau ihrer kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulatorien. Derzeit verfügt Wien über zwei dieser Ambulatorien, der Ausbau hängt, wie so oft, an der Finanzierung. Auch hier sei die Österreichische Gesundheitskasse gefragt.
Seit heurigen März läuft in Wien auch das Vorreiterprojekt "Home-Treatment". Wie berichtet, werden Kinder und Jugendliche durch multidisziplinäre Experten im vertrauten Umfeld betreut. Die Behandlungsdauer beträgt drei bis sechs Monate und soll die langen Wartezeiten auf einen Betreuungsplatz reduzieren. Das Angebot der multidisziplinären Behandlung sei laut Stadt mit dem stationären bzw. tagesklinischen Bereich vergleichbar.
Wichtige Telefonnummern im Krisenfall
Die Psychosozialen Dienste der Stadt Wien bieten einen telefonischen 24-Stunden Notdienst an, dieser ist unter der Nummer 0131330 erreichbar. Daneben helfen auch der Psychosoziale Informationsdienst unter 01/4000-53060, Rat auf Draht unter 147 oder das Kriseninterventionszentrum 01/4069595 (Montag bis Freitag von 10–17 Uhr) weiter.