WM 2022
Hymne verweigert! Was droht den Iranern jetzt?
Die iranische Nationalmannschaft sang aus Protest gegen das Regime die Hymne nicht. Das reiche dem Volk noch lange nicht, sagt ein Islamexperte.
Die WM-Partie England gegen den Iran hatte noch nicht einmal begonnen, da ging bereits eine Aktion um die Welt: Die gesamte iranische Nationalmannschaft sang bei ihrer Hymne nicht mit. Es war ein stiller Protest gegen das Mullah-Regime. Das iranische Staatsfernsehen unterbrach die TV-Übertragung als Reaktion auf den Protest. Eine äußerst mutige Aktion der Iraner.
Das sieht auch der englische "Telegraph" so: "Die politische Haltung der Fußballer in Katar war bemerkenswert und mutig. Die Mannschaft wurde zwar geschlagen, aber man kann den Spielern verzeihen, dass sie andere Dinge im Kopf hatten. Wie Irans Captain Ehsan Hajsafi sagte: 'Die Bedingungen in unserem Land sind nicht gut und unser Volk ist nicht glücklich.' Diese Äußerung könnte durchaus bedeuten, dass er nicht nach Hause zurückkehren kann."
Was droht denn den iranischen Spielern? Auf Anfrage von 20 Minuten sagt Mahdi Rezaei-Tazik, Politik- und Islamwissenschaftler an der Universität Bern: "Sie können die Spieler nicht verhaften oder ins Gefängnis stecken. Sie können sie aber unter Druck setzen, speziell ihre Familien. Sie können ihnen den Vertrag kündigen oder neue Verträge verhindern." Wenn man vor einem derart großen Publikum seine Stimme erhebe, dann gewinne man an Sicherheit. "Das Regime kann dir dann nicht viel antun." Und: Die Nationalhymne nicht zu singen, könne so verstanden werden, dass die Spieler dem Regime Herrschaftsberechtigung oder Herrschaftslegitimität absprechen.
Der Islamexperte sagt aber auch, dass die Aktion vor dem Spiel gegen England "historisch gesehen die größte Niederlage des Irans an einer WM ist. Denn die Fans haben im Stadion Parolen gegen das eigene Team gerufen, das hat es noch nie gegeben. Sie haben sich gefreut, als die Mannschaft Tore kassierte. Das zeigt, dass ein großer Teil des iranischen Volkes das Team nicht als seine Mannschaft, sondern als die des Regimes angenommen hat."
Einer der Gründe dafür ist, dass das Nationalteam sich vor der WM noch mit Präsident Ebrahim Raisi gezeigt hat. Laut Rezaei-Tazik seien dabei einige Spieler sehr schmeichelhaft gegenüber dem Staatsoberhaupt herübergekommen, währenddessen viele Menschen auf den Straßen starben. "Das iranische Volk war deswegen enorm enttäuscht."
Der Islamwissenschaftler hat den Eindruck, dass es dem iranischen Volk nicht reicht, nur die Nationalhymne nicht zu singen. "Dass man vor der Abreise noch den Präsidenten trifft, während er die Proteste als vom Ausland angezettelt bezeichnet, das konnte das Volk nicht verdauen." Rezaei-Tazik sagt aber auch, dass das Nationalteam noch Zeit habe, einiges zu korrigieren. "Es gibt unterschiedliche (radikalere) Varianten auch auf dem Feld, um die Stimme des Volkes wiederzugeben. Den Verzicht auf das Singen der Hymne schaut das Volk als Minimum an und ist damit nicht zufrieden."
Er vermutet, dass sich die Mannschaft in den nächsten Wochen noch kritischer äußern wird. "Das Team wird auf die Stimme des Volkes reagieren. Denn diese Mannschaft hat die Stimme des Volkes nicht so wiedergegeben, wie sie es hätte können."