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"Gerda: A Flame in Winter" im Test – beklemmend gut
"Gerda: A Flame in Winter" ist trotz eines malerischen Grafikstils ein beklemmendes und intensives Kriegs-Drama, das auf wahren Ereignissen beruht.
Nach einer Anspielmöglichkeit des Games im Mai 2022 ist nun "Gerda: A Flame in Winter" erschienen. Zeit, unsere Vorschau-Eindrücke nun mit dem Testurteil zu ergänzen. So persönlich ist kaum ein Spiel: Das am 1. September 2022 für Nintendo Switch und PC via Steam erschienene "Gerda: A Flame in Winter" versetzt uns in das dänische Dorf Tinglev, das im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besetzung steht. In diesem Dorf hat die Protagonistin und Krankenschwester Gerda ihr ganzes Leben verbracht und muss nun versuchen, die letzten Kriegstage zu überleben.
Eine Besonderheit: Gerda ist nicht eine komplett frei erfundene Figur, sondern basiert auf einer echten dänischen Widerstandskämpferin, der Großmutter von PortaPlays Entwicklungs-Chef Hans von Knut Skovfoged. Die Story des Titels geht sofort gehörig unter die Haut. Krankenschwester Gerda kehrt von ihrer Arbeit nach Hause zurück, das sie blutverschmiert vorfindet und wo sie feststellen muss, dass ihr Ehemann offenbar von den Nazis verschleppt wurde. Zurück ließ er allerdings einige wichtige Dokumente, die nun Dänen sowie Deutsche entweder retten oder stürzen könnte.
Vieles ist eine Parallele zur schrecklichen Realität
Gleichzeitig tun sich schreckliche Parallelen zur aktuellen Realität auf: Gerda selbst hat dänische und deutsche Wurzeln und eine deutsche Minderheit im Dorf wünscht sich schon lange den Anschluss an Deutschland. So gibt es im Spiel nicht nur die gute und böse Seite, sondern dem Spieler werden die Motive und Hintergründe der vorkommenden Gruppen vor Augen geführt. Nicht nur erzählerisch zeigt sich "Gerda: A Flame in Winter" aber äußerst komplex, das Spiel bietet auch einen ganz besonderen, gemalt wirkenden Grafikstil und ein Skill-System, das auf Erfahrungen und Wissen der Protagonistin beruht.
Ähnlich wie in "This War of Mine" ist die Kriegs-Atmosphäre packend und bedrückend, die Umsetzung dürfte keinen Spieler kaltlassen. Und das, obwohl das Spiel eigentlich wie ein Aquarell aussieht, mit unglaublich schönen Landschaften und Figuren im Pinselstrich-Design. Auch die Story selbst ist atemberaubend gut erzählt und dicht, sie spart zudem auch Gräuel ebenso wenig aus wie große Emotionen. Gut ein Dutzend Mal muss man schlucken, wenn Bekannte zu Verrätern, Kriegsgegner plötzlich zu Helfern und Zivilisten zu unberechenbaren Begleitern werden. Die Umsetzung ist top.
Schwierige Entscheidungen mit einem Funken Hoffnung
Unserer Protagonistin stehen bei ihrem Spieldurchlauf verschiedene Entscheidungen zur Verfügung, etwa wann man in einen Konflikt eingreifen oder ihn ignorieren, wann man Freunden oder lieber sich selbst helfen will. Alle Geschehnisse eines Tages hält Gerda in ihrem Tagebuch fest, in dem sich nicht nur die Geschehnisse nachlesen lassen, sondern auch die Ereignisse im Dänemark der letzten Kriegstage. Historisches vermischt sich dabei mit Fiktion, wobei es kaum bis keine fiktiven Geschehnisse im Spiel gibt, die nicht wirklich so stattgefunden haben könnten.
Ein großer Teil des Spielens besteht aus Dialogen mit Freunden, Fremden und Feinden. Das Schlimme dabei: Es gibt keinen leichten Weg dabei, welche Antworten man wählt oder welche Handlungen man setzt, viele Optionen führen zu verschiedenen schlimmen Ergebnissen und Hoffnung gibt es oft nur einen Funken. Je nachdem, was man den Charakteren antwortet oder wie man ihnen begegnet, verändert auch deren Sichtweise auf uns. Manche eher uns ablehnend gegenüberstehende Fremde können zu Helfern werden, Freunde wiederum in Misstrauen gegenüber uns verfallen.
Es gibt außerdem einen enormen Wiederspielwert
Diese vom Spieler zu treffenden Entscheidungen können gar den Verlauf verändern, wodurch es zu verschiedenen Enden des Games kommen kann. Das hatten die Entwickler von Player First Games und der Publisher Dontnod Entertainment bereits zuvor durchblicken lassen. Doch auch zwischendrin kann man bei der Story ganz verschiedene Wege einschlagen, der Wiederspielwert ist enorm. Überlassen wir einem sehr schwachen Überlebenden die letzte Medizin oder heben wir sie für ein Kind auf? Helfen wir einem verwundeten Nazi-Soldaten, der uns verraten oder helfen kann? Dilemma, so weit das Auge reicht.
Zurück zum Eingangs erwähnten Skill-Tree, den das Spiel auch auf seine ganz einzigartige Weise umsetzt. Bei den täglichen Tagebucheinträgen darf der Spieler jeweils einen letzten Satz ins Buch schreiben und dabei aus mehreren Möglichkeiten wählen. Je nach gewähltem Satz steigt dadurch Gerdas Einsicht, Mitgefühl oder Schlagfertigkeit an. Dieser Anstieg führt zu Punkten in der jeweiligen Kategorie, die in Gesprächen eingesetzt werden können. So kann sich Gerda mit Schlagfertigkeit aus brenzligen Situation rauswinden oder mit Mitgefühl Gewalt gegen ihre Liebsten verhindern.
Ein kleiner Logikfehler trübt das große Ganze nicht
Das System, mit dem sich Gerda in ihren Fähigkeiten üben und entsprechend mit den verschiedenen Fraktionen von Zivilisten über Widerstand bis hin zu Besatzern gut oder schlecht stellen kann, zeigt im Detail aber einen kleinen Logikfehler. So erhöht oder senkt eine Handlung nicht nur das Vertrauen der direkt betroffenen Gruppe, sondern tut dies konträr auch bei den anderen, die in Gesprächen oder Aktionen eigentlich gar nicht betroffen sind. Hilft man als Zivilistin beispielsweise den Rebellen, werden die Nazis noch repressiver gegen das Volk, obwohl sie von der Geheimhilfe gar nicht wissen können.
Technisch sieht der Titel wirklich, wirklich gut aus. Grafisch ist das Spiel trotz des düsteren Inhalts eine Augenweide, die Animationen sind flüssig und die Handlung ist extrem solide erzählt. Bis auf die kleinen Logik-Auffälligkeiten gefällt auch das System, bei dem man durch jede Option die Beziehung mit den anderen Figuren und den Fraktionen verändert, sehr gut. Wer bei all den Optionen und Dialogen Angst bekommt: Textwüsten gibt es im Game keine. Den Entwicklern ist es bemerkenswert gut gelungen, Teste recht kurz zu halten und vieles der Story über die Bilder und Musik zu erzählen.
Ein beklemmend gutes Abenteuer
Bemängeln darf man sicherlich die Kürze des spannenden Abenteuers. Schon nach bereits vier bis fünf Stunden ist man am Ende des Games angelangt, nur um sich direkt nach einem weiteren Spieldurchlauf zu sehnen. Die Spannung wird übrigens durch eine ebenso realistische wie interessante Mechanik hochgehalten: Mit Vorankommen im Spiel wird es immer schwieriger für Gerda, die beiden Gruppen zu befrieden, die sich immer aggressiver und misstrauischer gegenüberstehen. Das bekommt man sogleich das Gefühl, dass jedes falsche Wort eine Katastrophe auslösen könnte.
Überrascht ist man als Spieler zudem immer wieder, welch dramatischen Auswirkungen selbst kleine Entscheidungen, etwa wer ein rares Medikament bekommen soll, im weiteren Spielverlauf haben können und wie sehr sie die Geschichte des Games verändern. "Gerda: A Flame in Winter" ist ein beeindruckend gutes und bedrückendes Kriegs-Abenteuer geworden, das trotz seines malerischen Grafikstils die Gräuel nicht verharmlost und eine komplexe Geschichte mit zahlreichen Wendungen und einem gigantisch großen Wiederspielwert abliefert.