Oberst Markus Reisner
"Erinnert an Bachmut" – schwere Rückschläge für Ukraine
Das Zaudern des Westens bei Finanz- und Militärhilfen bedeutet für die Ukraine schwere Rückschläge. Das nützen die Russen jetzt eiskalt aus.
Die Ukraine musste in den letzten Tagen zwei schwere Rückschläge verkraften – nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf der strategisch-politischen Ebene. Präsident Wolodimir Selenski hat es trotz persönlichem Engagement nicht geschafft, den US-Kongress zur Freigabe weiterer Hilfsgelder noch in diesem Jahr zu bewegen. Die Republikaner blockieren das von Präsident Joe Biden geschnürte 61 Milliarden Dollar schwere Paket, fordern für ihr Ja verschärfte Grenzkontrollen zu Mexiko.
Auch diesseits des Atlantiks läuft es nicht rund. Ein auf 50 Milliarden Euro dotiertes Hilfspaket der EU scheiterte vergangene Woche am Njet des Putin-nahen Ungarn-Premier Viktor Orban. Er verlangt für seine Zustimmung die Freigabe, der erst wegen seiner andauernden Rechtsstaatlichkeitsverstöße blockieren EU-Fördermittel. Spätestens am 1. Februar soll auf einem Sondergipfel eine Entscheidung über das weitere Vorgehen fallen.
"Erkannt, dass man nicht weiter in Offensive gehen kann"
Für die Ukraine bedeutet das einen Richtungswechsel im Kampfgebiet. Statt wie bisher offensiv auf die Befreiung besetzter Territorien hinzuarbeiten, ist sie nun gezwungen, in die Defensive zu gehen. Militärstratege Oberst Markus Reisner des Österreichischen Bundesheeres sieht dies auch durch Aussagen Selenskis und ranghohen Offizieren bestätigt.
Der Oberkommendierende der Streitkräfte in der Ostukraine etwa habe öffentlich gesagt, dass es "zum Wohle der Soldaten" einige Entscheidungen geben werde. Diese könnten laut Reisner möglicherweise auch Frontbegradigungen beinhalten. Heißt: "Man nimmt Kräfte zurück auf eine günstigere Verteidigungsposition".
"Man hat erkannt, dass wenn die Mittel, die man braucht, nicht kommen, man nicht weiter in die Offensive gehen kann. Man muss in die Defensive gehen und versuchen, die Zeit durchzutauchen, bis möglicherweise wieder Ressourcen zur Verfügung gestellt werden", weiß der Analyst.
Reaktion Putins auf Zaudern
Auch der große Auftritt Wladimir Putins bei seiner Jahrespressekonferenz vor einigen Tagen zeige, dass er sein Russland jetzt in der dominanten Rolle in diesem Krieg sehe und es aus Kreml-Sicht "nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Westen in die Knie geht".
Selbst die von Putin ausgesprochene Drohung gegenüber Finnland lasse erkennen, dass sich Russland zumindest selbst in einer Position der Stärke sieht. "Das zeigt sehr deutlich, dass das Zaudern im Westen von den Russen sofort als Chance erkannt wird und entsprechend genützt wird".
Und das nutzt Putin nicht nur politisch, sondern auch auf dem Schlachtfeld. Entlang der Front sei auf russischer Seite aktuell wieder verstärkte Offensivtätigkeit zu beobachten. Reisner: "Immer noch ohne massive Durchbrüche, aber an verschiedenen Stellen der Front mit einem langsamen Vormarschieren."
Ganz deutlich sehe man das rund um Bachmut, wo die Ukrainer in Gefahr liefen, die im Süden und Norden der besetzten Stadt wieder freigekämpften Gebiete erneut zu verlieren bzw. diese auch schon wieder verloren hätten.
Setzt Ukraine jetzt auf Ablenkung?
Die Ukraine werde wie auch schon in der Vergangenheit versuchen, diese Misserfolge durch andere Erfolge zu überlagern, sagt der Bundesheer-Offizier. So hätten in den vergangenen 48 Stunden scheinbar wieder unabhängige russische Unabhängigkeitskämpfer im Raum Belgorod zugeschlagen. "Das erinnert sehr an die Situation von Bachmut."
Am 20. Mai 2023 war die Stadt im Osten der Ukraine in russische Hände gefallen. "Am nächsten Tag hat niemand mehr davon gesprochen von diesem Erfolg der Russen in Bachmut, sondern alles hat auf die Situation in Belgorod geblickt." Auch damals hätten russische Abtrünnige dort den Kampf gegen örtliche Truppen aufgenommen. Plötzlich sei der mediale Fokus nur noch auf einer Frage gewesen: "Wie kann es sein, dass ein Land wie Russland faktisch nicht seine Grenzen schützen kann?"
"Man sieht sehr gut, dass die Ukraine den Verlust von Bachmut im Informationsraum mit einem anderen Ereignis gekonnt überspielt hat. Genau dieser Vergleich drängt sich wieder auf", so der geschulte Kriegsbeobachter.
Kann Ukraine die Russen ausbluten?
Die Ukraine werde jedenfalls nun "neue Wege beschreiten" und ihr "Ziel kürzer setzen" müssen. Es sei keine grundsätzliche Abkehr von der angestrebten Befreiung aller besetzten Gebiete, so Reisner weiter, "aber es bedeutet vorerst, von der Offensive in eine Defensive zu gehen".
Genau das wird auch in einem Diskussionspapier von NATO-Mitglied Estland als neue Strategie vorgeschlagen. Demnach solle die Ukraine mindestens während des kommenden Jahres in der Defensive bleiben, damit sie selbst und auch die westlichen Alliierten Kräfte und Rüstungsindustrie deutlich ausbauen könnten.
Nur 0,25 Prozent des BIP aller NATO-Staaten seien notwendig, um die russische Kriegsmaschinerie zu überflügeln, rechnet das estnische Verteidigungsministerium vor. Das Ziel: Russland solle in einem verlustreichen Stellungskrieg ausgeblutet werden und "spätestens 2026 verloren" haben.
Oberst Reisner sieht darin offenbar eine valide Option. Nachsatz: "Das heißt aber auch, dass der Krieg in dieser Form weitergehen wird."