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Eine Million Menschen wollen 2023 Asyl in Europa
Eine Million will 2023 Asyl in Europa, sagt Migrationsexperte Eduard Gnesa. Weniger als die Hälfte ist schutzbedürftig, heißt es.
Durch die Ankunft von Tausenden Geflüchteten auf Lampedusa spricht ganz Europa über Migration und Asyl. Laut Eduard Gnesa werden 2023 über eine Million Menschen in Europa Asyl beantragen.
Wie viele Menschen flohen 2023 schon nach Europa?
Über die Mittelmeerroute laut Frontex rund 160.000, über den Balkan mehr als 70.000 (Stand Ende August). "Zählt man die osteuropäische Route dazu, sind 2023 bisher rund 300.000 Personen irregulär nach Europa gekommen", sagt Gnesa.
Woher kommen die Menschen?
Die wichtigsten Herkunftsländer waren laut Gnesa in den letzten Jahren Syrien, Afghanistan und die Türkei. Venezuela, Kolumbien, Guinea und die Elfenbeinküste werden zunehmend wichtiger.
„519.000 Menschen haben bis Ende Juni dieses Jahres in Europa Asyl beantragt.“
Wie viele Asylanträge wurden gestellt?
In EU-Staaten plus Norwegen und der Schweiz wurden bis Ende Juni 2023 519.000 Asylgesuche gestellt. Bis Ende Jahr dürften es laut Gnesa mehr als eine Million Asylanträge sein. Zum Vergleich: Im Spitzenjahr 2015 waren es 1,4 Millionen Asylgesuche, letztes Jahr rund 960.000.
Wieso fliehen die Menschen aus diesen Ländern?
In den Herkunftsländern sind die Hauptgründe laut Gnesa Konflikte, das Versagen von Regierungen, Armut und Perspektivlosigkeit. Dazu kämen indirekte Ursachen wie die Auswirkungen des Klimawandels und der demografische Druck. Auch die Folgen von Covid 19 hätten zu vermehrter Flucht geführt.
Wohin gehen die Menschen in Europa?
Hier muss laut Gnesa unterschieden werden: "Von denen, die sich auf die Staaten Europas verteilen, ohne ein Asylgesuch zu stellen und sich dort irregulär aufhalten, wissen wir es nicht." Am meisten Asylgesuche wurden im ersten Halbjahr 2023 in folgenden Ländern gestellt:
Deutschland (30 Prozent)
Spanien (17 Prozent)
Frankreich (16 Prozent)
Italien (12 Prozent)
Haben die Asylsuchenden ein Recht, hierzubleiben?
Das ist sehr unterschiedlich und drückt sich in den Schutzquoten aus. "Menschen aus Syrien waren im EU-Raum über 90 Prozent schutzbedürftig, jene aus Bangladesch in vier Prozent der Fälle", sagt Gnesa. Auch Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Syrien und Irak sind in hohem Masse schutzbedürftig. Aus Bangladesch hingegen finde Arbeitsmigration statt, die Menschen flüchteten vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen. In den EU-EFTA-Staaten betrug die Schutzquote im ersten Halbjahr 2023 41 Prozent, in der Schweiz rund 50 Prozent.
Wie viele Menschen bleiben hier, obwohl sie nicht schutzbedürftig sind?
Auch diese Zahlen schwanken stark. "EU-weit wurden letztes Jahr 23 Prozent der abgewiesenen Asylsuchenden tatsächlich in ihre Herkunftsländer zurückgeführt. In der Schweiz waren es deutlich mehr, nämlich 60 Prozent", sagt Gnesa.
Wie verteilt Europa die Asylsuchenden?
Das ist eines der großen Probleme: Der Solidaritätsmechanismus funktioniert nicht und auch das Dublin-System ist stark beeinträchtigt. Darum stellen so viele Menschen in Deutschland ihren Asylantrag. "Die Verfahren dort dauern teils jahrelang und können vor verschiedenen Gerichten angefochten werden. Das führt zu einem sogenannten Pull-Effekt: Die Geflüchteten wollen nach Deutschland."
Was macht die Schweiz besser?
Laut Gnesa mehrere Dinge: "Die Verfahren hier sind schnell, aber fair. Hier kann man nicht darauf spekulieren, jahrelang mit guten Fürsorgeleistungen im Land bleiben zu dürfen, weil die Verfahren verschleppt werden." Dazu kommt: "Die Schweiz hat mit mehreren Ländern, auch mit afrikanischen Staaten, Migrationspartnerschaften inklusive Rückübernahmeabkommen. Sprich: Wird das Asylgesuch abgelehnt, können wir die Menschen auch wirklich dahin zurückführen. Darum ist diese Quote in der Schweiz höher."
Läuft in der Schweiz also alles perfekt?
"Natürlich nicht", sagt Gnesa. Auch hier gebe es teils Probleme mit Kriminalität und gegen autokratische Staaten, die sich konsequent weigern, abgewiesene Asylsuchende zurückzunehmen, könne auch die Schweiz wenig machen. "Aber insgesamt funktioniert unser Asylsystem besser als das europäische", ist Gnesa überzeugt.
Eduard Gnesa
Eduard Gnesa war von 2001 bis 2009 Direktor des Bundesamts für Migration im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement. Von 2009 bis 2017 war er Botschafter für internationale Migrationszusammenarbeit im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Heute ist Gnesa Teil der "Migration Experts Group".