Österreich
"Durch einen Infekt bin ich im Rollstuhl gelandet"
Früher kickte er am Fußball-Feld, heute sitzt Martin P. im Rollstuhl. Der Oberösterreicher leidet seit vier Jahren am Chronischen Fatigue-Syndrom.
Das Gehen überlastet seinen Körper, er ist zu 99 % bettlägerig. Selbst beim Baden benötigt Martin P. (27) Hilfe – der Oberösterreicher ist vor vier Jahren an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erkrankt: "Es ist, als wärst du in einer schweren Dauer-Grippe gefangen", erklärt der 27-Jährige im "Heute"-Gespräch.
Alles begann im Jänner 2017, Martin P. hatte damals einen Infekt. Wie sich im Nachhinein herausstellte, handelte es sich um das Epstein-Barr-Virus, bekannt durch das Pfeiffersche Drüsenfieber: "Ich war Briefträger und habe gespürt, dass etwas nicht stimmt. Aber ich habe den Tag noch bis zum Ende gearbeitet. Vermutlich bin ich einfach zu spät in den Krankenstand gegangen", erinnert sich der Oberösterreicher.
„"Der Versuch, den Körper wieder aufzubauen, zu trainieren, machte alles nur noch schlimmer" - CFS-Betroffener Martin P.“
Danach kamen manche Symptome schleichend, andere wurden von selbst schlimmer – oft auch durch Überanstrengung: "Der Versuch, den Körper wieder aufzubauen, zu trainieren, machte alles nur noch schlimmer", so Martin P. Sein Magen reagierte plötzlich empfindlicher auf Speisen, die Reaktion auf Alkohol war wesentlich stärker als früher: "Ich hatte sehr starke Übelkeit, musste viel aufstoßen und hatte sehr viel Luft im Magen-Darm-Bereich. Zudem litt ich unter starker Kälte- und Hitzeempfindlichkeit, habe extrem viel geschwitzt. Mein Energie-Level ging immer weiter hinunter. Das habe ich zum Beispiel beim Fußball-Training bemerkt", so Martin P.
Weil es ihm im April 2017 wieder sehr schlecht ging, musste der damals 23-Jährige erneut zu Hause bleiben: "Ich ließ mein Blut untersuchen, das brachte aber kein Ergebnis." Bis Juli verschlechterte sich sein Zustand immer mehr, der Negativ-Höhepunkt war dann bei einer Grillfeier erreicht: "Meine Energie fiel von 70 % auf 30 %. In dieser Nacht veränderte sich alles", meint Martin P.
Ärzte vermuten oft eine Depression oder ein Burnout
Der Oberösterreicher ließ sich komplett durchchecken, "aber alle Untersuchungen brachten nichts", so Martin P. "Schließlich glaubten die Ärzte, dass es psychisch ist. Oft wird bei dieser Krankheit ein Burnout oder eine Depression vermutet. Aber ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass es eine organische Ursache gibt."
Schließlich stellte im März 2018 ein Arzt im Krankenhaus Braunau die Diagnose ME/CFS – Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom – eine schwere, neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu körperlicher Behinderung führt: "Die Zeit bis zur Diagnose war mental sehr anstrengend. Diese Ungewissheit, was mit mir los ist", erklärt Martin P.
„"Leider ist die Krankheit nicht anerkannt. Ich wurde als psychiatrischer Fall eingestuft"“
Und noch ein weiteres Problem belastet den 27-Jährigen: "Leider ist die Krankheit offiziell nicht anerkannt. Also wurde ich für die Behörden und andere Institutionen als psychiatrischer Fall eingestuft. Sonst wäre ich komplett gesund geschrieben worden, obwohl ich nicht mehr arbeiten konnte", so Martin P., der Reha-Geld bezieht und seit Anfang 2020 in Frühpension ist.
Seit rund einem Jahr lebt der gelernte Bank-Kaufmann in einer betreuten WG in Linz, den Kontakt zum Großteil seiner Familie hat er abgebrochen: "Am Anfang meiner Krankheit lief alles noch gut. Ich habe im Haus meiner Mutter gelebt. Aber als ich komplett bettlägerig geworden bin, wurde es immer schwieriger."
CFS-Betroffene können oft Reize nur bedingt verarbeiten
Der einst schlanke und muskulöse Fußballer, der hobbymäßig auch Volleyball spielte und Laufen ging, sitzt nun im Rollstuhl und ist aufgrund des Bewegungsmangels übergewichtig. Meist verbringt er die Zeit im abgedunkelten Zimmer: "Es fühlt sich an wie ein Sonnenstich. Ich kann Reize wie Licht und Geräusche nur bedingt verarbeiten. Einmal pro Woche komme ich für etwa zehn Minuten hinaus, das geht aber nur mit Kopfhörern und einer Schlafmaske."
In den vergangenen vier Jahren ging es mit seinem Leistungsvermögen immer weiter bergab. Vor drei Jahren war Martin P. noch etwa zehn Stunden pro Woche belastbar: "Heute kann ich etwa dreimal pro Tag mit dem Rollstuhl aufs WC und selber aus der Badewanne heraus steigen. Mehr geht nicht." Medikamente eines Wiener Spezialisten brachten leichte Verbesserungen: "Es geht ein wenig bergauf, mein Zustand ist jetzt sozusagen stabil."
„"Rund 75 % der Betroffenen sind nicht arbeitsfähig" - Astrid Hainzl, Österreichische Gesellschaft für ME/CFS“
Zwischen 26.000 und 80.000 Menschen in Österreich sind laut der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS von der Krankheit betroffen, meist steht ein Infekt am Beginn. Die Erkrankung führt, je nach Ausprägung, bei den meisten zu schweren körperlichen Einschränkungen: "Rund 75 % der Betroffenen sind nicht arbeitsfähig", meint Astrid Hainzl von der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS.
Der Schweregrad variiert dabei: "Es ist mehr als eine Müdigkeit oder eine Erschöpfung. Es ist eine enorm gesenkte Leistungsfähigkeit. Manche können nicht mehr den Geschirrspüler ausräumen, andere schaffen es nicht einmal mehr aufs WC." Das Hauptsymptom: Post-Exertional Malaise (PEM): "Nach körperlicher oder geistiger Anstrengung kommt es zu einer Zustandsverschlechterung, etwa schon nach dem Duschen."
ME/CFS - eine schwere, oft unterschätzte Krankheit
Hinzu kommt, dass die Diagnosefindung oft sehr langwierig ist (meist fünf bis acht Jahre) und viele Spezial-Tests nötig sind: "Die Krankheit ist noch sehr unbekannt, die Schwere wird meist verkannt. Betroffene werden oft nicht ernst genommen und als psychisch krank stigmatisiert. Wenn die Diagnose dann gestellt ist, wird sie nicht anerkannt. Viele Gutachter kennen die Krankheit einfach nicht", so Hainzl.
Durch die Corona-Pandemie und Long Covid rücken postvirale Gesundheitsprobleme nun immer mehr in den Vordergrund: "ME/CFS war schon vorher da. Aber die Pandemie hat die Krankheit oder Symptome wie PEM sichtbarer gemacht. Bisher wurde das oft angezweifelt", meint Hainzl. Die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS hat nun eine Petition gestartet, damit die Krankheit endlich offiziell anerkannt, die medizinische Versorgung und finanzielle Absicherung der Betroffenen gewährleistet und die Forschung gefördert wird. Die Petition kann unter openpetition.de/!xtbgl unterzeichnet werden.
Weitere Informationen im Internet unter cfs-hilfe.at