Wien

"Dramatische Entwicklung" – Psychologe ist alarmiert

Gerald Tomandl arbeitet seit 31 Jahren beim Kriseninterventionszentrum. Durch Corona, Kriege und Teuerung sei "seelische Erste Hilfe" gefragt wie nie.

Yvonne Mresch
Immer mehr junge Menschen leiden unter psychischen Belastungen. Die Arbeit des Kriseninterventionszentrums ist gefragt wie nie.
Immer mehr junge Menschen leiden unter psychischen Belastungen. Die Arbeit des Kriseninterventionszentrums ist gefragt wie nie.
Bild: Fotolia

"Die Entwicklung erfüllt uns mit großer Sorge", sagt Gerald Tomandl im Gespräch mit "Heute". Der klinische Psychologe und Psychotherapeut ist seit 31 Jahren im Kriseninterventionszentrum tätig. Seitdem hat sich viel getan: "Im vergangenen Jahr haben wir 2017 Personen persönlich betreut und das ist, verglichen mit dem langjährigen Durchschnitt, eine Steigerung von 19 Prozent", berichtet er.

Krisen belasten die Psyche

Die Telefonberatungen seien im Jahr 2022 sogar um 42 Prozent auf insgesamt 4.491 Beratungen gestiegen. "Hier sehen wir deutlich wie sehr die Belastungen für die Menschen in den vergangenen Jahren gestiegen sind." Gründe dafür seien die Pandemie, der Ukrainekrieg und die enorme Teuerung.

Das Kriseninterventionszentrum ist seit der Gründung 1977 ein Ambulatorium für Menschen in psychosozialen Lebenskrisen. Anlass für die Kontaktaufnahme sind meist Trennung oder Tod eines nahestehenden Menschen aber auch durch Traumata durch Unfälle, Katastrophen, Gewalt oder anhaltende Stressbelastungen. Hilfesuchende können unter 01/4069595 (von Montag bis Freitag, 8 bis 17 Uhr) anrufen. Häufig erfolgt dann eine Einladung zu einem weiteren persönlichen Gespräch.

"Teuerungen bringen Menschen an den Rand der Verzweiflung"

Vor allem junge Menschen wenden sich immer häufiger an Tomandl und seine Kollegen. "Wir haben schon im ersten Jahr der Pandemie beobachtet, dass der Anteil der Personen im Alter von 18 bis 30 Jahren deutlich gestiegen ist", so der Experte. "Mit großer Sorge sehen wir, wie die Teuerungen bei Lebensmittel und Wohnen auch junge Menschen finanziell extrem belasten und oft an den Rand der Verzweiflung bringen. Da helfen Einmalzahlungen leider wenig, denn die Belastungen bleiben dauerhaft bestehen und die weiteren Entwicklungen deuten nicht auf Entlastung hin. Hier braucht es langfristige strukturelle Maßnahmen auf politischer Ebene." Das Zentrum bietet spezielles therapeutisches Angebot für Erwachsene ab 18 Jahren kostenlos an.

Gerald Tomandl (re.) und die Kolleginnen des Kriseninterventionszentrums.
Gerald Tomandl (re.) und die Kolleginnen des Kriseninterventionszentrums.
Alexander Haiden

"Mein jüngster Klient ist 18 Jahre alt"

Der Großteil von Tomandls Klienten ist zwischen 20 und 50 Jahre alt, nach oben hin gibt es jedoch keine Grenze. "Ich betreue derzeit eine 84-jährige Frau, die ihren Mann nach 60 Jahren Ehe verloren hat. Und mein jüngster Klient ist gerade 18 geworden und nach dem tragischen Verlust seiner Eltern mit den vielen Fragen zu seiner Zukunft einfach überfordert", erzählt er. Der Anteil der Frauen betrug im vergangen Jahr 64 Prozent, der Männer 35,7 Prozent und divers 0,3 Prozent. Männern falle aus Scham schwerer selbst aktiv eine Hilfe anzunehmen, so Tomandl. "Oft sind es daher Angehörige, die sich Sorgen machen und die Männer motivieren bei uns anzurufen. Wir haben auch eine eigene Email Beratung eingerichtet, wo es Männern in der Anonymität etwas leichter fällt über ihre Sorgen und Suizidgedanken zu schreiben."

"Trauer und Schmerz berühren mich"

Die Krisenintervention ist eine Art Akuthilfe, erklärt Tomandl. "Ich nenne es gerne eine seelische Erste Hilfe". Für Betroffene sei es oft schon eine große Erleichterung, dass jemand Verständnis für ihre Gefühle zeigt, erklärt der Psychologe. Eine Begleitung in der Krisenintervention dauert oft mehrere Wochen oder Monate. Darüber hinausgehend wird eine weitere Behandlung mit dem Klienten gemeinsam organisiert.

Auch für die Experten ist die Arbeit nicht immer einfach. "Persönlich an die Grenzen geht es für mich dann, wenn eine Geschichte besonders tragisch oder komplex ist und eine ambulante Hilfe nicht mehr ausreicht", so Tomandl. Krisenintervention sei Beziehungsarbeit. "Das Berührende für mich ist es zu sehen, wenn Menschen aus einer scheinbaren Aussichtlosigkeit, ihre Krise und die damit verbundenen Gefühle allmählich annehmen können und wieder Lebensmut finden. Es gibt natürlich auch nach so vielen Jahren Geschichten, die mir besonders nahe gehen. Das sind meist Gespräche mit Eltern deren Kind kürzlich gestorben ist. Diese intensive Trauer und der Schmerz berühren mich immer wieder besonders."

"Muss sich auf Menschen einlassen"

Von einer vollständigen Abgrenzung hält Tomandl nicht viel: "Oft höre ich, dass man sich in dieser Arbeit gut abgrenzen muss. Ich persönlich sehe es aber so, dass man sich zuerst wirklich auf einen Menschen einlassen muss um eine Begegnung zu ermöglichen. Nur so kann diese besondere therapeutische Arbeit auch gelingen. Und danach soll man sich auch wieder lösen können." Mehr Infos finden Sie auf www.kriseninterventionszentrum.at

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