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Deutschland schaltet alle AKW ab – Sorge um Strompreise

Ab sofort ist endgültig Schluss mit der Stromerzeugung durch Atomkraft in Deutschland. Gleichzeitig wächst die Sorge um den Strompreis.

Was passiert nach der Abschaltung mit den AKW? (Im Bild: Das AKW Isar 2 beim Fluss Isar bei Landshut, Bayern).
Was passiert nach der Abschaltung mit den AKW? (Im Bild: Das AKW Isar 2 beim Fluss Isar bei Landshut, Bayern).
REUTERS

Nach über 60 Jahren endet am Samstag in Deutschland die Ära der Nutzung der Kernenergie für die Stromerzeugung. Die drei letzten deutschen Atomkraftwerke in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen – Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland – werden abgeschaltet.

Die Betreiber sind nun verpflichtet, die Anlagen abzubauen. Zuletzt war nach einem Machtwort von Bundeskanzler Olaf Scholz (SP) ein zusätzlicher "Streckbetrieb" für die drei AKW erlaubt worden, der nun endgültig abgelaufen ist.

Wie viel Strom produzieren die drei AKW?

Sie haben zusammen eine Leistung von gut 4 Gigawatt. Zum Vergleich: Die Schweizer Kernkraftwerke Leibstadt, Gösgen und Beznau, die rund 30 Prozent des dortigen Stroms produzieren, bringen es auf 3 Gigawatt. Allein das Kraftwerk Emsland lieferte in diesem Jahr bis zum 15. April rund zwei Milliarden Kilowattstunden. Das entspricht etwa dem Jahresstrombedarf von rund 500.000 Haushalten.

Gefährdet die Abschaltung die Versorgungssicherheit?

Nein, sagen die deutsche Bundesnetzagentur, das Bundeswirtschaftsministerium und auch private Netzbetreiber. Demnach stehe genügend gesicherte Kraftwerksleistung aus anderen Anlagen bereit, um die Stromnachfrage auch nach Abschaltung zu decken.

Wirkt sich die Abschaltung auf den Rest Europas aus?

"Ich gehe davon aus, dass es keine größeren Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit, den Strompreis und die CO2-Emissionen geben wird", sagt Massimo Filippini vom Centre for Energy Policy and Economics an der ETH Zürich. "Die Rolle der Kernenergie im deutschen Stromsystem ist eher begrenzt – ungefähr sechs Prozent im Jahr 2022 und weniger als sechs Prozent in den letzten Monaten." Es werde jedoch wichtig sein, die erneuerbaren Energien weiter auszubauen, um Kohlekraftwerke so bald wie möglich zu ersetzen.

Filippini fügt an: "Für den schweizerischen und europäischen Strommarkt ist die Produktionsleistung der französischen Kernkraftwerke viel wichtiger. So hat zum Beispiel die starke Reduktion der Produktion der französischen Kraftwerke im Jahr 2022 aufgrund von Sicherheitsproblemen zu höheren Strompreisen beigetragen."

Wie wirkt sich das auf die Strompreise aus?

Auf die Strompreise für Haushaltskunden werden keine konkreten Auswirkungen erwartet – zumindest nicht kurzfristig. Aber mittel- bis langfristig könnte die Abschaltung sehr wohl Folgen haben, da mit der Kernkraft günstige Stromkapazitäten aus dem Markt genommen werden, die in Zeiten hoher Nachfrage ersetzt werden müssen. Es wird also darauf ankommen, wie schnell der Ausbau der erneuerbaren Energien voranschreitet.

Womit ersetzt Deutschland jetzt die Atomenergie?

Vor allem durch eine stärkere Nutzung von Kohle- und Gaskraftwerken. Die Bundesregierung will aber bis 2030 den Anteil erneuerbarer Energien auf 80 Prozent fast verdoppeln und das schwankende Aufkommen von Wind- und Solarkraft durch den Neubau von etwa 50 Gaskraftwerken ausgleichen.

Steht Deutschland mit der Abschaltung alleine da?

Ziemlich. Wegen der durch den russischen Angriffskrieg verstärkten Energiekrise haben zahlreiche Staaten die Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke verlängert. Frankreich, Großbritannien, Polen, Tschechien und die Niederlande planen zudem den Bau neuer AKW.

Anders sieht es in der Schweiz aus. 2017 nahm die Bevölkerung das neue Energiegesetz und die Energiestrategie 2050 an. Damit soll die Schweiz bis 2050 klimaneutral sein. Mit der Annahme der Abstimmung wurde zwar der Bau neuer AKW verboten, nicht aber der bestehende Betrieb. Die AKW Leibstadt und Beznau im Kanton Aargau sowie das Kraftwerk Gösgen bei Olten dürfen weiterlaufen, solange sie sicher sind. Das Bundesamt für Energie rechnet mit einer Laufzeit von bis zu 60 Jahren.

Wird die Abschaltung in Deutschland von der Mehrheit getragen?

Nein. Eine große Mehrheit der deutschen Bürger spricht sich gegen die Abschaltung aus. Nur 28 Prozent finden die Abschaltung der letzten drei AKW richtig, wie die Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergab.

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    Die Nachrichten um das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl werden immer besorgniserregender. Nicht nur, dass sich die Belegschaft vor Ort in russischer...
    zVg
    Was sagen die Kritiker des Ausstiegs?

    Vor allem, dass als Ersatz für die fehlenden vier Gigawatt Leistung aus der Kernenergie die Kohlekraftwerke am Netz blieben und Kohlendioxid ausstoßen. Sie fordern eine Laufzeitverlängerung der letzten drei AKW bis mindestens Ende 2024. Die deutsche Industrie- und Handelskammer etwa stellt sich auf den Standpunkt, dass nur so Versorgungsengpässe und eine massive Steigerung der Energiepreise vermieden oder zumindest abgemildert werden können.

    Was sagen die Befürworter?

    Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verweist auf die hohen Füllstände in den Gasspeichern, die neuen Flüssiggasterminals an den norddeutschen Küsten und mehr erneuerbare Energien. "Wir haben die Lage im Griff", sagt er. Andere erwarten trotz des Atomausstiegs perspektivisch sogar sinkende Strompreise. "Der Strompreis wird natürlich günstiger werden, je mehr Erneuerbare wir haben", so die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne). Atomkraft dagegen sei "teuer, sowohl in der Herstellung, in der Produktion, als auch danach".