Welt
"Das Virus verschlingt die Menschen wie ein Monster"
Noch nie wurden an einem Tag so viele Corona-Neuinfektionen gemeldet wie am Sonntag in Indien – die gefährliche Doppelvariante B.1.617 wütet.
349.691 Neuinfektionen innerhalb von einem Tag: Diese Zahlen vermeldeten die indischen Gesundheitsbehörden am Sonntag. Noch nie hatte ein Land so viele neue Ansteckungen mit dem Coronavirus in nur 24 Stunden gemeldet. 2.767 Menschen starben im selben Zeitraum mit dem Virus.
Die Situation ist dramatisch: Krematorien und Friedhöfe sind überlastet. Der Vorrat an medizinischem Sauerstoff ist bedenklich gesunken und Patienten sterben, während sie darauf warteten, einen Arzt zu sehen. Besonders schlimm ist es in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Die Spitäler haben keine Kapazitäten mehr, das Personal ist ausgelaugt und überarbeitet.
Der Fall von Ashwin Mittal zeigt, wie prekär die Situation ist. Er sucht seit einer Woche verzweifelt ein Spitalbett für seine am Coronavirus erkrankte Großmutter. In der ganzen riesigen Stadt fand er keinen Platz für sie: Entweder waren keine Betten frei oder nicht genügend Sauerstoff-Geräte vorhanden, um sie versorgen zu können. "Wenn sie überlebt, dann wegen eines Wunders und nicht etwa wegen einer medizinischen Behandlung", so ein Freund der Familie gegenüber "BBC".
Massenabfertigung in den Krematorien
Vor überfüllten Krankenhäusern starben manche Menschen, während sie auf der Straße darauf warteten, einen Arzt zu sehen. Beschäftigte des Gesundheitswesens versuchen, Intensivstationen zu vergrößern und die schwindenden Sauerstoff-Vorräte aufzufüllen. Krankenhäuser kämpfen ebenso wie Patienten darum, knappe Medizinprodukte aufzutreiben, die oft zu überhöhten Preisen verkauft werden.
Nicht besser als in den Spitälern sieht es in den Krematorien aus. In der Stadt Bhopal muss auf eine Feuerbestattung stundenlang gewartet werden, wie dort zu hören war. Mitarbeiter des Krematoriums Bhadbhada Vishram Ghat berichteten, dass sie am Samstag mehr als 110 Leichen verbrannt hätten, obwohl die offizielle Zahl der Toten in der Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern zehn war. "Das Virus verschlingt die Menschen unserer Stadt wie ein Monster", sagte Mitarbeiterin Mamtesh Sharma.
"Wie mitten im Krieg"
Die beispiellose Zahl neuer Leichen zwang das Krematorium, individuelle Zeremonien und ausgiebige Rituale auszusetzen, von denen Hindus glauben, dass sie die Seele aus dem Kreislauf der Wiedergeburt befreien. "Wir verbrennen die Leichen einfach, wenn sie kommen", sagte Sharma. "Es ist, als ob wir mitten in einem Krieg seien." Der leitende Totengräber des größten muslimischen Friedhofs von Neu-Delhi, Mohammad Shameem, sagte: "Ich fürchte, dass uns sehr bald der Platz ausgeht."
Noch im Jänner hatte Ministerpräsident Narendra Modi das Coronavirus für besiegt erklärt. Die Inderinnen und Inder seien dadurch verleitet worden, auf Maßnahmen zur Verringerung der Ansteckungsgefahr zu verzichten, sagte Dr. Krutika Kuppalli, Assistenzprofessorin für Medizin an der Abteilung für Infektionskrankheiten der Medical University of South Carolina in den USA. Sie hätten aber besser weiterhin Abstand halten, Masken tragen und große Menschenmengen vermeiden sollen.
Modi wird dafür kritisiert, hinduistische Festivals und große Wahlkampfveranstaltungen zugelassen zu haben, die Experten zufolge zur Ausbreitung des Virus beitrugen.
Mutation hat Europa erreicht
Aufgrund der schrecklichen Bedingungen, die in Indien herrschen, reagieren andere Staaten. Italien hat am Sonntag alle Flüge von und nach Indien verboten. Die indische Coronavirus-Mutation breitet sich nicht nur in Indien aus. Seit Samstag ist bekannt, dass sich die Virus-Mutation schon in unserem Nachbarland Schweiz befindet. Ein erster Fall wurde bereits Ende März nachgewiesen und von einem Passagier via einem Transitflughafen eingeschleppt.
Die indische Coronavirus-Variante B.1.617 gilt als hochgefährlich, weil sie gleich zwei Mutation des Spike-Proteins in sich trägt. Sie steht deshalb im Verdacht, resistenter gegen Impfungen zu sein und auch Geimpfte und Genesene anstecken zu können.