Neun Tage vor den Wahlen ist es in München mutmaßlich zum fünften Anschlag innerhalb weniger Monate in Deutschland gekommen. Ein 24-jähriger Afghane hat ein Auto in eine Gewerkschaftsdemonstration gelenkt und dabei mindestens 30 Menschen verletzt, darunter auch Kinder – "Heute" berichtete.
Die deutsche Bevölkerung ist schockiert – und das Thema Migration rückt einen Schritt weiter in den Vordergrund. Was heißt das für die anstehenden Wahlen? Der deutsche Politikwissenschaftler Aiko Wagner erklärt.
Wagner glaube nicht, dass der Anschlag den Wahlkampf auf den Kopf stelle. Dieser war ohnehin stark vom Thema Migration geprägt. Der Anschlag verstärke diese Debatte, aber er drehe den Wahlkampf nicht um. "Wir werden in den kommenden Tagen eine noch intensivere Diskussion über Abschiebungen, Asyl und Migration erleben", so der Politikwissenschaftler.
An eine Machtübernahme der AfD glaube Wagner nicht. Zum einen, weil es der AfD an einem Koalitionspartner fehlt. "Ich halte die CDU/CSU für stabiler als etwa die ÖVP in Österreich, sie wird keine Zusammenarbeit mit der AfD eingehen." Andererseits habe die AfD ihr Wählerpotenzial schon beinahe ausgeschöpft. Derzeit liege die Partei bei 21 Prozent. Laut Wagner wären maximal 25 Prozent denkbar.
Die Union hingegen habe ein größeres Potenzial. Man höre, dass Wähleranteile von bis zu 50 Prozent möglich wären, meint Wagner. Das ganz auszuschöpfen, werde aber kaum möglich sein. Das begründet der Wissenschaftler damit, dass sich ihr Potenzial auch mit anderen Parteien überschneidet. Trotzdem: Die Parteien, die sich kritisch zur Migration äußern, würden am ehesten von einem solchen Anschlag profitieren – also die AfD und CDU/CSU.
Für die linken Kräfte in Deutschland sieht Wagner beim Thema Migration kein Potenzial. "Solange Migration als Problem wahrgenommen wird, werden linke Parteien kein politisches Kapital daraus schlagen können." Laut Wagner werde es weder der SPD noch den Grünen gelingen, Migration als Chance darzustellen. Der Politikwissenschaftler sehe gerade "keine gute Lösung für linke Kräfte".
Wagner zufolge fühle sich Merz durch den Anschlag in seinem harten Kurs bestätigt – insbesondere bei der Frage der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. So fordere er etwa, Ausreisepflichtige in leer stehenden Kasernen in Haft zu nehmen.
"In Deutschland gibt es tatsächlich viele ausreisepflichtige Menschen. Das Thema wurde bis zum Attentat von Aschaffenburg nicht als Priorität behandelt. Mit dem Vorfall in München wird es – und die Migration generell – noch dominanter zum Thema werden. Das Klima und die Wirtschaft werden weiter in den Hintergrund rücken", betont der Wissenschaftler.
Wagner glaube nicht daran, dass der Anschlag die letzten Tage des Wahlkampfes dominieren wird. Es sei ein tragisches Ereignis, aber er verstärke vor allem bestehende Dynamiken. Das Thema Migration sei schon vorher zentral gewesen. München gebe dem Wahlkampf eine noch emotionalere Note, die grundlegenden Strukturen werde es aber nicht verändern. Die politische Debatte müsse differenzierter geführt werden. "Abschottung allein ist keine Lösung – das hätte weder die Anschläge in Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg noch in München verhindert", meint Wagner.
Dem Politikwissenschaftler zufolge sei die Rückschaffung von ausreisepflichtigen Asylbewerbern ist ein komplexes Thema. Die Attentäter von München und Aschaffenburg etwa waren beide ausreisepflichtige Afghanen. Doch Deutschland erkenne die Taliban-Regierung in Afghanistan nicht an, weshalb es an einem Partner für Abschiebungen im großen Stil fehle.
"Für solche Probleme gibt es keine konkreten Lösungen in der politischen Debatte, es wird vielmehr Symbolpolitik mit dem Thema betrieben – das wird sich auch jetzt nicht ändern", erklärt Wagner.