Österreich
34 Verletzte: Lokführer ist freier Mann
Paukenschlag beim zweiten Prozesstag gegen den Lokführer (26), der 34 Passagiere ins Spital chauffiert hatte, in St. Pölten: Der 26-Jährige ist frei, die Staatsanwaltschaft zog den Strafantrag zurück.
Zweiter, erneut schwerer, Gang für einen 26-jährigen Lokführer aus Niederösterreich am Mittwoch. Er musste in St. Pölten auf die Anklagebank und sich wegen fahrlässiger Gemeingefährdung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten (Strafrahmen: bis zu zwei Jahre Haft).
Rückblick: Am Morgen des 26. Juni war eine Garnitur der "Himmelstreppe", also der Mariazellerbahn, mit zwei aneinandergehängten Triebwägen entgleist und umgestürzt. Drei Waggons kamen auf der Seite zum Liegen. Im Zug befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks rund 80 Personen. Ein Riesenaufgebot an Rettungskräften, Feuerwehrleuten und Polizei eilte zum Unglücksort – 34 Passagiere wurden verletzt, drei Insassen sogar schwer verletzt ("Heute" berichtete). Die Strecke war bis 2. Juli gesperrt, Gesamtschaden: über 10 Millionen Euro.
Fast 30 km/h zu schnell
Die Ermittlungen wurden in der Folge akribisch geführt. Zwei Sachverständige - aus den Bereichen Eisenbahn- und Unfallwesen sowie Neurologie-Psychiatrie - wurden beauftragt. Laut Endbericht war der Lokführer in einer Kurve bei Völlerndorf (Bezirk St. Pölten-Land) zu schnell unterwegs gewesen, nämlich mit Tempo 62 bis 64. Die Geschwindigkeit hätte laut Staatsanwaltschaft Sankt Pölten aber rund 35 km/h betragen müssen. Der Zugführer sprach in den Erhebungen stets von einem Blackout.
Am ersten Prozesstag im März in St. Pölten führte zu Beginn die Staatsanwaltschaft aus: "Der Zug wurde von 70 km/h nur auf etwa 64 km/h verringert. Dann kippte der Triebwagen. Der Angeklagte spricht von einem Blackout - entweder hat man ein Blackout oder nicht, Mittelvarianten gibt es nicht." Laut Staatsanwaltschaft gab es fix keine technischen Mängel.
"Nicht schuldig"
Der Anwalt des Mandanten entgegnete: "Es war ein schrecklicher Tag für meinen Mandanten. Er fuhr seit 2014 diese Strecke rund 1.400 Mal, wie der Unfall passierte, wird sich wohl nie ganz sagen lassen." Der Angeklagte bekannte sich somit nicht schuldig.
Der 26-jährige Angeklagte führte dann im Zeugenstand aus: "Ich ging am Vorabend um cirka 20 Uhr bis 20.30 Uhr schlafen, kam leicht auf, um 3.55 Uhr war Dienstbeginn." Um 6.10 Uhr sei er los gefahren, bis Ober-Grafendorf sei alles in Ordnung gewesen, an den Unfall selbst habe er überhaupt keine Erinnerung. Nach dem Unfall war der 26-Jährige selbst im Spital, dann längere Zeit im Krankenstand.
So geht es dem Lokführer jetzt
"Wie geht es Ihnen jetzt?", wollte der Richter wissen. "Naja, es war immer mein Traum Lokführer zu werden, jetzt arbeite ich in einer Werkstatt." Der Richter wollte wissen: "Hatten Sie Selbstmordgedanken?" Der Angeklagte: "Nicht direkt." Der Richter: "Was heißt das?" Der 26-Jährige: "Ich war nicht motiviert, aber habe nicht an Selbstmord gedacht." Nach über einer Stunde wurde der Angeklagte aus dem Zeugenstand entlassen und die Opfer (=weitere Zeugen) befragt.
Die Zeugen berichteten vor Gericht von den dramatischen Minuten, zeigten teilweise Smartphone-Fotos her. Ein Zeuge über die Momente und Gedanken vor dem Unfall: "Bist du gscheit, der legt sich heute aber in die Kurve."
Noch ein Gutachten
Ein Schüler, der im Zug saß, meinte vor Gericht: "Der Zug kippte, es begann zu rauchen, dann hat ein Mann eine Scheibe eingeschlagen." Nach den Zeugen waren die Sachverständigen an der Reihe. Ein Gutachter sagte: "Mit dem sofortigen Durchführen einer Schnellbremsung wäre der Zug nicht gekippt. Aber die Fliehkräfte wären dennoch hoch gewesen." "Technisch lässt sich das Verhalten des Lokführers nicht erklären", sagte der Gutachter weiter. Möglicherweise hat der Angeklagte eine plötzliche Ohnmacht mit Verlust der Haltungskontrolle gehabt. Der Gutachter erklärte mögliche unbewusste Bewegungen des bewusstlosen Körpers durch Krämpfe, hält so ein Szenario indes aber für unwahrscheinlich.
Keine Strafe
Daher entschied der Richter damals: Ein Gutachten eines Internisten soll her, der Richter vertagte im März den Prozess.
Am Mittwoch ging es in St. Pölten weiter. Dabei ging es sehr zügig: Der Gutachter bestätigte die Blackout-Version des Lokführers - er dürfte tatsächlich einfach bewusstlos geworden sein (medizinischer Begriff: Synkope). "Unterstützt wurde das durch zu wenig Flüssigkeit, hohen Puls und dass der Angeklagte bereits negative Erfahrungen auf der Unfallstrecke davor hatte", so der Gutachter. Staatsanwalt Leopold Bien zog somit den Strafantrag zurück - der 26-Jährige ist frei.
(Lie)